Presseschau Open Europe

Gegen den EGMR: eine „internationale” Anti-Migrationsbewegung in Europa?

Neun europäische Länder haben den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert und ihm vorgeworfen, ihre jeweilige Migrationspolitik zu behindern. Die europäische Presse reflektiert über die Tragweite dieses Vorgehens.

Veröffentlicht am 17 Juni 2025

Was die aktuellen Ereignisse im Bereich Migration angeht, denken viele an den politischen Sturz von Rishi Sunak vor nicht langer Zeit. Um eine Wahlkatastrophe zu vermeiden, hatte sich der ehemalige konservative Premierminister des Vereinigten Königreichs an das Thema Migration geklammert. Er hatte zahlreiche radikale Vorschläge wie die „Ruanda-Lösung” gemacht und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) infrage gestellt, der ihn daran gehindert hatte, seinen Abschiebungsplan umzusetzen – eine Flucht nach vorn, die letztendlich zum Triumph der britischen Linken führte.

Damals schien Sunak ziemlich allein zu sein. Es ist jedoch offensichtlich, dass sich die Situation stark verändert hat. In einem am 22. Mai veröffentlichten Brief griffen neun europäische Länder (Dänemark, Italien, Polen, Belgien, Österreich, die Tschechische Republik, Estland, Lettland und Litauen) den Gerichtshof an und warfen ihm vor, in bestimmten Fällen den Geltungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention zu weit ausgelegt zu haben. Ihrer Meinung nach hindert die EGMR die Mitgliedstaaten daran, ihre Befugnisse bei der Ausweisung von straftätigen Ausländer*innen auszuüben. Sie fordern eine Neubewertung der Rolle der internationalen Instanz.

Der Europarat, dem der Gerichtshof untersteht, hat die Unterzeichnerstaaten zurechtgewiesen und dazu aufgerufen, den Gerichtshof nicht zu politisieren. Auch weigerte er sich, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) zu schwächen.

Heikles Terrain

„Ich bin überrascht und traurig zu sehen, dass Belgien sich mit Ländern verbündet, die bereits frontal die Justiz angegriffen haben“, empört sich Françoise Tulkens, ehemalige Richterin und Vizepräsidentin des EGMR, in einem Interview mit Agathe Decleire für die belgische Tageszeitung Le Soir. „Belgien war in diesen Fragen immer führend“, betont sie. „Diese Unterschrift ist schwer zu verstehen.“

Für Tulkens ist das Argument, dass sich der EGMR von seiner ursprünglichen Auslegung entfernt habe, aufgrund des lebendigen und flexiblen Charakters dieser Institution nicht stichhaltig. Sie sieht in dem offenen Brief einen „Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit” und in der von den Unterzeichnenden geforderten Auslegung einen „Totengräber der Grundrechte“. Es steht viel auf dem Spiel: Der EGMR kann eine Ausweisung verhindern, wenn die betroffene Person im Zielland Gefahr läuft, gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt zu werden.

Die belgische Tageszeitung veröffentlichte außerdem die Antwort von fünfzehn Universitätsprofessor*innen, die sich ebenfalls über die Haltung der Unterzeichnerstaaten empören.

In der dänischen Tageszeitung Berlingske hat Kalinka Aaman die Sprecherin der Partei Radikale Venstre (RV, Mitte-Links) Agger Zenia Stampe, interviewt. Auch wenn ihre Partei die Idee unterstützt, Kriminelle ausländischer Herkunft ausweisen zu können, stellt Stampe mehrere kritische Fragen. „Was ist die Definition eines oder einer hartgesottenen Kriminellen? Werden auch Kleinkriminelle abgeschoben? Und was muss man tun, um abgeschoben zu werden?” Ihrer Meinung nach garantiert die Menschenrechtskonvention bereits ein angemessenes Gleichgewicht zwischen der Schwere der Straftat und der Verbundenheit mit dem Land.


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Für Stampe stellt sich die Frage: Will man den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Beurteilung aufgeben? „Das Worst-Case-Szenario wäre, dass selbst Menschen mit dänischem Pass, aber ausländischer Herkunft befürchten müssen, als Bürger*innen zweiter Klasse betrachtet zu werden, die man bei der ersten Gelegenheit loswerden will.”

„Grundrechte sind keine Zugeständnisse”

Für Valigia Blu liefert Giulio Fedele eine lange und umfassende Analyse des offenen Briefes und seiner möglichen Auswüchse. Unter anderem weist der italienische Journalist darauf hin, dass dieser „das Konzept der Menschenrechte selbst infrage stellt und suggeriert, dass ihr Schutz ‚verdient‘ werden muss und verloren gehen kann, wenn ein Bürger oder eine Bürgerin sich nicht an die Regeln des sozialen Lebens hält.”

„[In dem Brief] wird behauptet, dass einige Migrant*innen sich dafür entschieden hätten, sich nicht zu integrieren, sich „in Parallelgesellschaften isolieren und sich von den Grundwerten der Gleichheit, Demokratie und Freiheit entfernen“, sodass sie keinen „positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten, die sie aufgenommen hat, und stattdessen Straftaten begehen”. Daraus folgt, dass aus genau diesen Gründen der Schutz ihrer Rechte eingeschränkt oder gemildert werden sollte: „Es ist unverständlich, dass manche Menschen in unsere Länder kommen, unsere Freiheit und unsere zahlreichen Möglichkeiten nutzen und sich sogar dafür entscheiden, Straftaten zu begehen.”

Wenn man über Migration spricht, stellt sich automatisch eine grundlegende Frage: Wer hat Rechte? „Grundrechte sind keine willkürlichen Zugeständnisse, sondern unverzichtbare Garantien, die für jeden Einzelnen und jede Einzelne gelten müssen, unabhängig von seinem oder ihrem Verhalten, seinem oder ihrem Status, seiner oder ihrer politischen Situation, dem Vorliegen einer Vorstrafe oder der Frage, ob er oder sie legal oder illegal in das Staatsgebiet eingereist ist“, fährt Fedele fort.

In Il Manifesto stellt Giansandro Merli die Frage nach dem Zweck einer solchen Neubewertung der Rolle des EGMR.

„Um Rechte einzuschränken, beginnt man immer mit Grenzfällen, den ‚Staatsfeinden‘. Aber dabei bleibt es nie”, behauptet er. „Die illegalen Ausweisungen von Donald Trump, die auch Personen ohne Vorstrafen betreffen und im Mittelpunkt eines heftigen Konflikts mit der Justiz stehen, sind der jüngste Beweis dafür. Der Brief steht in eben dieser Tradition: Der Ton ist moderat, aber die Botschaft ist klar.”

Der Gerichtshof ist keine Institution, die völlig losgelöst vom Rest der Welt ist. Sein Budget hängt weitgehend von der Finanzierung durch die Mitgliedstaaten ab, und die Richter*innen werden auf nationaler Ebene ernannt, wie Merli betont.

Pasquale De Sena, Professorin für internationales Recht in Palermo, erklärt: „Das Schlimme daran ist, dass diese Maßnahme zu einer kollektiven und abgestimmten Missachtung der Urteile des EGMR in dieser Angelegenheit führen kann, wenn keine Einigung erzielt wird. Aber die Rechtsprechung eines Gerichtshofs kann nicht Gegenstand von Verhandlungen sein.“

„Was auch immer Giorgia Meloni dazu sagen mag, der Brief hat jedenfalls nicht den erhofften Erfolg gehabt. Außer Dänemark haben nur sieben Länder ihn unterzeichnet”, schließt Merli. „Die Tatsache, dass Deutschland und andere große EU-Länder ihn nicht unterzeichnet haben, ist ein Zeichen. Neun von 27 EU-Mitgliedstaaten sind nicht viele. Neun von 46 Mitgliedern des Europarats, in dem der EGMR seinen Sitz hat, sind noch weniger. Und dennoch: Der Weg ist frei.”

Gestern war ein Land gegen den EGMR, heute sind es neun. Wie viele werden es morgen sein?

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