Athens Schrei vernehmen

Statt die griechischen Verantwortungsträger wie Aussetzige und ihre Wähler wie Pestkranke zu behandeln, täten die europäischen Führungsspitzen, und allen voran die Deutschen, besser daran, ihnen Gehör zu schenken. Stattdessen haben sie nur ihre wirtschaftlichen Forderungen im Kopf. Allerdings lassen sie dabei die demokratischen Grundsätze außer Acht und nagen so am Fundament der Union.

Veröffentlicht am 17 Mai 2012 um 10:27

In Windeseile gewöhnen wir uns an Klischees und verlieren ihre perversen Effekte völlig aus den Augen. Mechanisch wiederholen wir sie. Ganz so, als handele es sich dabei um unwiderlegbare Wahrheiten. Dabei ist ihre eigentliche Aufgabe doch, uns wieder auf die richtige Bahn zu bringen.

Beispielsweise die Gefahr, die besteht, wenn wir den gleichen Weg wie Griechenland nähmen. Diese Idee ist inzwischen zu einem regelrechten Motto geworden, das uns in verwirrte Zuschauer eines Buß-Ritus verwandelt, bei dem der Sündenbock fürs Gemeinwohl geopfert wird. Für das Andere, das Andersgestaltete gibt es in unserer Gesellschaft keinen Platz. Uns wenn die neuen, gerade einberufenen Wahlen nicht zur gewünschten absoluten Mehrheit führen, scheint das griechische Schicksal wie vorherbestimmt.

Wie viele Male haben die Führungsspitzen uns unmissverständlich zu verstehen gegeben: „Ihr wollt doch nicht das gleiche Schicksal erleben wie Griechenland?“ Der Austritt aus der Eurozone ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Er kann aber heimlich, still und leise arrangiert und erleichtert werden. In Wirklichkeit befindet sich Athen bereits in der Grauzone des Nicht-Europas. Längst ist [Griechenland] der Werwolf, auf den man sich beruft, um Kindern Angst einzujagen.

Tspiras will ein anderes Europa. Genau wie François Hollande.

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Vermutlich lässt sich der griechische Austritt nicht vermeiden. Das sollte uns aber nicht daran hindern, die wirklichen Gründe zu beleuchten. Dass [der Austritt] unvermeidlich ist, liegt nicht etwa daran, dass die Rettung zu kostspielig wäre, sondern vielmehr daran, dass die Demokratie mit den Strategien unvereinbar ist, die das Land angeblich retten sollen. Bei den Wahlen am 6. Mai sprach sich die Mehrheit der Wähler gegen die Spar-Pille aus, die dem Land seit zwei Jahren ohne jeden Erfolg verabreicht wird. Ganz im Gegenteil: Sie stürzt Griechenland in eine Rezession, die der Demokratie immer mehr zum Verhängnis wird. Eine Wirtschaftsrückgang, hinter dem die Schreckgespenster Weimar und Militärstreiche lauern.

Weil sich die Parteien nicht einigen konnten, müssen die Wähler erneut zu den Urnen schreiten. Dann werden sie ihrer Ablehnung erneut Ausdruck verleihen und den Linksradikalen von Alexis Tsipras’ Parti Syriza noch mehr Macht geben. Dann wird es abermals von Klischees nur so wimmeln: Syriza, eine unheilvolle Kraft, die gegen den Sparkurs und die Union ist; und Tsipras, der perfekte Anti-Europäer.

Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Tspiras will weder die Eurozone, noch die Union verlassen. Er will ein anderes Europa. Genau wie François Hollande. Er weiß, dass 80 Prozent der Griechen an der Einheitswährung hängen, sie aber zu anderen Konditionen wollen. Sie haben genug von den Landes- und EU-Politikern, die sie arm gemacht und die wirklichen Wurzeln des Bösen ignoriert haben: Die Korruption der wichtigsten Parteien, die von der Politik versklavten öffentliche Dienstleistungen, und die [vom Sparen verschonten] Wohlhabenden. Tsipras heißt die Antwort auf diese Leiden. Und trotzdem will sich keiner bei einem Gespräch mit ihm erwischen lassen. Nicht einmal Hollande, der ein Treffen mit dem Syriza-Vorsitzenden ablehnte, als sich dieser gleich nach den Wahlen nach Paris begab.

Als sei es eine Schande, heutzutage einem Griechen Gehör zu schenken

Und haben sich die europäischen Linken, die vorgeben, Solidarität in ihrem Blut zu haben, für Giorgos Papandreou stark gemacht, als dieser forderte, die Griechenland-Krise zu europäisieren, um sie lösen zu können? Wer nahm die Worte wirklich ernst, die er im Dezember gegenüber den deutschen Grünen äußerte, kurz nachdem er als Regierungschef zurückgetreten war? Seine damals geäußerten Gedanken sind auch heute noch die beste Lösung, um die Krise zu überwinden: „Den Mitgliedsstaaten das Sparen, Europa die Wachstumspolitik“ überlassen.

Papandreous Worte sind unbeachtet geblieben. So als sei es eine Schande, heutzutage einem Griechen Gehör zu schenken. So als hätte es keine Folgen, wenn man genau das Land verblüffend ungeniert ausgrenzt, in dem die Demokratie das Licht der Welt erblickte. [Das Land], in dem die Entartungen [dieser Demokratie] schonungslos um sich greifen: Oligarchie, Plutokratie, d. h. Herrschaft der Märkte, sowie die Verachtung, die dem Gesetz und der Justiz zuteil wird.

Gäbe es ein Minimalgedächtnis, würden wir die griechische Seele besser verstehen. Wir würden begreifen, was Nikos Dimou damit meint, wenn er in seinen Aphorismen Über das Unglück, ein Grieche zu sein spricht: „Das griechische Volk fühlt die erdrückende Last seines eigenen Erbes. Es hat diese übermenschliche Vollkommenheit begriffen, die Worte und Formen der Ältesten vereint. Das überwältigt uns: Je mächtiger uns unsere Vorfahren erscheinen (ohne dass wir sie kennen würden), desto unheimlicher sind wir uns selbst“.

Europa hat aus Griechenland keine europäische Angelegenheit gemacht

Diejenigen, die von den christlichen Wurzeln Europas sprechen, vergessen die griechischen. Sie ignorieren auch, mit wie viel Begeisterung Europa Athen begrüßte, als es 1974 endlich mit dem Regime der Obristen [Militärdiktatur] vorbei war. Schließlich ist es symbolisch gesehen ein absolut zentrales Land.

Was unsere Politiker nicht sagen: Dass der Austritt Athens nicht nur das Ergebnis seiner eigenen Niederlage sein wird. Damit wird ganz Europa scheitern. Eine schmutzige Geschichte mutwilliger Machtlosigkeit. Uns ist es nicht gelungen, die Bedürfnisse von Wirtschaft und Demokratie miteinander zu vereinigen. Trotz all unserer Ressourcen und unserer Intelligenz haben wir es nicht geschafft, den ersten beispielhaften Ruin der alten Nationalstaaten zu überwinden. Europa hat nicht zusammengehalten. Es gab niemanden wie Finanzminister Alexander Hamilton, der nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg forderte, dass die Zentralregierung für die Schulden eines jeden Staats aufkommen müsse, und sie so in einem starken Verband vereinigt.

Europa hat aus Griechenland keine europäische Angelegenheit gemacht. Es hat nicht erkannt, wie die Krisen der Wirtschaft mit denen der Demokratie, der Nation und der Politik zusammenhängen. Jahrelang hat es einem korrupten griechischen Establishment den Hof gemacht und bekommt nun den Mund nicht mehr zu, wenn es mit einem Volk konfrontiert wird, das die Verantwortung für diese Katastrophe einfach nicht übernehmen will.

Diese Kluft zwischen Union und Demokratie, zwischen Uns und Euch wird schmerzhafte Folgen haben. Ihr Tod wird ein bisschen auch unser [Tod] sein. Allerdings mangelt es in diesem Untergang an der Selbsterkenntnis, die uns Athen lehrt. Es ist nicht der griechische Tod, den Ajax der Große in der Ilias meint: „Denn rings Dunkel umhüllt sie selber zugleich und die Rosse! Vater Zeus, o errett' aus der dunkelen Nacht die Achaier! Schaff' uns Heitre des Tags, und gib mit den Augen zu schauen! Nur im Licht verderb' uns, da dir's nun also geliebet!“

Meinung

Ende des Sparkurses - eine Gelgenheit

In einem Gespräch mit dem rumänischen Internetportal CriticAtac sprach der Grieche Leonidas Chrysanthopoulos über die Situation Griechenlands. Sein Land hat nichts mehr zu verlieren, meint der Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Schwarzmeerraum. „Wie tief kann ein Land, in dem die Mittelschicht im Müll nach Nahrung sucht, noch fallen? Wir befinden uns bereits in der Kategorie Junk [Abfall]...“ Chrysanthopoulos ist der Meinung, dass „Griechenland die Eurozone verlassen wird. Nur dann können die Staatsschulden schrittweise abgebaut werden. Für die Eurozone ist es die einzige Überlebenschance, die gleichzeitig für einen Wachstumsschub sorgen müsste.“

Freilich geben die Unter-40-Jährigen den radikalen Syriza-Linken den Vorzug, gibt Chrysanthopoulos zu. Und selbst wenn das für ihn unerhört ist, überrascht es ihn nicht: „Der Gedanke, einige griechische Parteien als ‚radikal’ zu bezeichnen, gefällt mir nicht. Sie haben nur eine andere Meinung. [Das ist nicht nur] völlig legitim, sondern tut sogar gut. Egal, wer die Wahlen gewinnt, wird ein Land am Rande des Abgrunds regieren. [...] Sollten die Sparmaßnahmen scheitern, wird man sie aufgeben müssen. Eine Gelegenheit, die man dann beim Schopf ergreifen sollte.“

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