Institutionen

Barroso wiederholt das verbotene Wort

Der Kommissionspräsident schlägt einen Bund von Nationalstaaten vor und weist der EU damit einen ambitionierten Weg. Doch nun stellt sich die europäische Presse unweigerlich die Frage, wie Brüssels Befugnisse und die Rolle der Mitgliedsstaaten aussehen sollen.

Veröffentlicht am 13 September 2012 um 14:51

In einem entscheidenden Moment für die Europäische Union, die der Krise nur schwer entkommt, wollte José Manuel Barroso einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Am 12. September machte der Präsident der Europäischen Kommission in seiner jährlichen Rede zur Lage der Union mehrere Vorschläge. Dazu gehörte auch der äußerst symbolstarke Vorschlag für einen „demokratischen Bund von Nationalstaaten“, der durch einen neuen EU-Vertrag eingerichtet werden soll.

„Barroso nahm kein Blatt vor den Mund“, meint dazu das Svenska Dagbladet. In der schwedischen Tageszeitung heißt es:

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Der Vorschlag einer Bankenunion zur Aufsichtsverstärkung war vorgesehen. Doch er ging noch weiter, indem er behauptete, die EU „müsse“ eine Fiskalunion schaffen, die dann zu einem Staatenbund führen solle. Barrosos Vorstellung von den Bereichen, die er selbst und seine Kollegen vernünftigerweise übernehmen können, scheint grenzenlos zu sein. [...] Barrosos Idee ist weder vernünftig noch wünschenswert und man kann sich durchaus fragen, ob er sie selbst für realistisch hält. Der Vorschlag scheint eher austesten zu wollen, wie weit die EU wohl damit gehen kann, Maßnahmen anzuraten, mit denen sie ihre eigene Macht verstärkt. Das kann wie eine Verschwörungstheorie aussehen – was aber nicht unbedingt der Fall ist. Die Liebe zum europäischen Projekt ist in Brüssel sehr ausgeprägt. Dort glaubt man romantisch an das Gute an einer Union, in der sich die Länder stetig immer näher kommen. Doch wird die Idee dadurch auch nicht realistischer. [...] Je enger sich die Kernländer der EU zusammenschließen, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Union sich letztendlich spaltet, mit Ländern, die in unterschiedlichem Ausmaß miteinander zusammenarbeiten.

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Der Standard zeigt sich nachsichtiger. Er hat einen neuen Barroso entdeckt: ein „Politikertyp, den man acht Jahre lang vergeblich gesucht hat: [ein] echter Kämpfer“. Für die Wiener Tageszeitung ist das, was der Kommissionspräsident vorgestellt hat:

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Ein guter Plan. Was ist da passiert? Barroso war lange als fader Vom-Blatt-Leser berüchtigt. Wenn man ins Kalkül zieht, dass der konservative Portugiese als ganz junger Student gegen die damalige Diktatur in seinem Land gekämpft hat, klart das Bild etwas auf. Er fürchtet den möglichen Zerfall, wenn die Gemeinschaft sich nicht nach vorn bewegt – samt Abbau von Demokratie, wie das in dem einen oder anderen EU-Krisenland sichtbar wird.

So wie er sie vor den EU-Abgeordneten beschrieben hat, ahmt die Zukunftsvision des Kommissionspräsidenten für die EU „unverhohlen die deutsche Vision eines „vereinten Europas“ nach“, so urteilt die România liberă in Bukarest. Diese Vision...

... setzt steuerliche und budgetäre Verantwortlichkeit und Disziplin voraus, eine verminderte Diskrepanz in Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität zwischen Nord und Süd sowie eine vorsichtige politische Integration, die die Unterschiede zwischen den Völkern nicht verschwinden lässt. [Das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts über den Rettungsfonds zeigt, dass] Berlin [...] sehr darauf achtet, den europäischen Bund nicht in einen Superstaat zu verwandeln. [...] Hinter dem Sieg des deutschen Projekts verschwindet ab jetzt praktisch jede andere Visionsalternative.

Aber vielleicht gibt es keine andere Wahl, um den Euro zu retten, gesteht die Londoner Times zu, die traditionsgemäß gegen eine vertiefte europäische Integration eingestellt ist:

In Jahrzehnten von EU-Umfragen haben die Bürger des Kontinents noch nie so viel Widerstand gegen den Wunsch der Gründerväter nach einer immer engeren Union bewiesen. [...] Der Gedanke, die Foltermaschine der Vertragsverhandlungen wieder anzuwerfen, ist das letzte, was die meisten Politiker wollen. Doch das große Paradox in der Notlage des Euro ist, dass die meisten Regierungen – darunter auch die britische – sich trotz der Unbeliebtheit der EU jetzt darüber einig sind, dass die Währung nur gerettet werden kann, wenn ihre Mitgliedsstaaten mehr Souveränität aufgeben. [Das] nennt man eine Flucht nach vorn.

Diese Entwicklung, so der Daily Telegraph, wird die Forderung nach einem Referendum über die Beteiligung Großbritanniens an der EU verstärken. Die Tageszeitung behauptet sogar, dass sich die Regierung schon darauf vorbereitet, wie sie im Fall einer Volksbefragung eine Empfehlung vorschlagen könnte, mit welcher Großbritannien in der EU bliebe, ohne einer politischen Union beizutreten.“ Doch nichts

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könnte für Premierminister David Cameron schlimmer sein, denn es würde ins Vorfeld der Parlamentswahlen von 2015 fallen und das überaus strittige Thema Europa ganz oben auf den politischen Themenkatalog stellen.

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