Alexander Shmidt voxeurop belarus potatoes

Der „Genosse Landwirt Nummer eins“: In Belarus bedroht die Kartoffelkrise das Regime von Lukaschenka

Die Kartoffel ist in Belarus das Nahrungsmittel schlechthin und ein kulturelles und historisches Symbol. Das Land hält den Weltrekord im Pro-Kopf-Verbrauch. Seit einigen Monaten ist die Kartoffel in dieser ehemaligen Sowjetrepublik knapp und teuer geworden. Eine Situation, die die Stabilität des Regimes von Aljaksandr Lukaschenka beeinträchtigen könnte.

Veröffentlicht am 26 Juni 2025

Seit einigen Monaten beschweren sich die Belarusen über Geschäfte, die überteuerte oder minderwertige Kartoffeln oder gar keine Kartoffeln verkaufen. Die Behörden versuchen, das Problem zu lösen, indem sie den [legalen] Verkaufspreis erhöhen und Lizenzen für den Export von Gemüse ins Ausland einführen. Das Ministerium für Anti-Monopol-Regulierung und Handel (MART) kontrolliert die Gemüsebestände und behauptet, dass es keinen Mangel an Kartoffeln gibt.

Am Anfang war der Export

Anfang April haben Journalisten des unabhängigen belarusischen Mediums Zerkalo festgestellt, dass sich die Behörden schon seit Mitte Februar Sorgen um Kartoffeln machten. Das MART (Ministerium für Handel und Wettbewerbsregulierung) hatte ein Treffen mit dem Landwirtschaftsministerium, den Verwaltungen von Minsk-Stadt und Minsk-Oblast einberufen sowie mit Vertretern großer Handelsketten wie Evroopt, Santa, Green, Almi, Korona, Guippo, Sosedi, Dobronom und anderen. 

Auf der Versammlung ging es um Gemüse-Engpässe: Unter anderem ging es darum, dass die Stabilisierungsspeicher, in denen bis zur nächsten Ernte Obst und Gemüse gelagert werden, ihren Abnehmern – den Handelsketten – „minderwertige Waren” liefern.

Außerdem sei es wegen der Preisregulierung für Produzenten, die ihre Ernte in diese Stabilisierungsspeicher liefern, lukrativer, ihr Gemüse nicht auf dem Binnenmarkt zu verkaufen, sondern zum Beispiel nach Russland zu exportieren, wo ein Kilo Kartoffeln zum doppelten Preis gehandelt wird. 

Lukaschenka, der Genosse Landwirt Nr. 1
Zu den Hauptnutznießern der steigenden Lebensmittelpreise gehört der Staatschef Aljaksandr Lukaschenka: „Das Unternehmen, das sein landwirtschaftliches Vermögen verwaltet, erwirtschaftete rund 1,2 Milliarden Rubel (fast 320 Millionen Euro) Umsatz, mit einem Wachstum von 15 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, weit über dem nationalen Durchschnitt von 3,4 Prozent“, berichtet das unabhängige Medium Plan B. Das Agrarunternehmen des „Landwirts Nr. 1“ des Landes umfasst 14 Einheiten – Bauernhöfe, Milchbauern, Schlachthöfe, Verarbeitungsbetriebe – auf Hunderttausenden von Hektar, „die in der gesamten Kette tätig sind: Saatgut, Zucht, Verarbeitung, Vertrieb in Belarus, Russland, China. Die Hauptkulturen sind Kartoffeln, Zwiebeln und Kohl, daher seine Spitznamen ‚Kartoffelkönig‘, ‚Zwiebelprinz‘ und ‚Kohlbaron‘“. Nicht zuletzt dank „eines nahezu unbegrenzten Zugangs zu staatlichen Finanzmitteln, die oft als Unterstützung für die Landwirtschaft getarnt sind“, erzielte das Unternehmen Gewinne von über 125 Millionen Rubel (ca. 33 Millionen Euro) - mehr als 20 % in einem Jahr, womit es mit den größten europäischen Betrieben konkurrierte, wie PlanB weiter feststellt.

Im Februar war das Kartoffelthema bis zum Staatschef Aljaksandr Lukaschenka durchgedrungen. „Na sowas, wir haben also keine Kartoffeln. Um wieviel sind Kartoffeln bei uns teurer geworden? Und um wieviel steigen die Preise zwischen den Ernten? Sind wir etwa unfähig, ausreichende Mengen Kartoffeln anzubauen, sie in Kellern zu lagern und sie dann der Bevölkerung zu verkaufen?“, empörte er sich. Lukaschenka griff daraufhin Mitglieder seiner Regierung an, denen er vorwarf, sie seien nicht in der Lage gewesen, den Preisanstieg zu bremsen, und sie hätten seine Empfehlungen nicht beachtet. Er berichtete auch von Beschwerden, die er direkt von den Bürgern erhalten hatte, und bat sie um Geduld.

Destabilisierung durch rigide Preiskontrolle 

Der Staat hat auf mehrere Arten versucht, das Kartoffeldefizit zu beheben. Ende März verlängerte die Regierung die Lizenzierung des Kartoffelexports um drei Monate, um „sich die Kontrolle über Vorräte und Exporte aufgrund der steigenden Nachfrage und der hohen Kartoffelpreise jenseits der belarusischen Grenzen zu sichern“. 

Im Anschluss änderten die Behörden die Höchstpreise für mehrere landwirtschaftliche Erzeugnisse, darunter auch Kartoffeln, nach oben: Während im März der maximale Verkaufspreis für ein Kilo frische Kartoffeln, die für Lebensmittel bestimmt waren, 76 Kopeken (damals 0,20 Euro) betrug, durfte er in den folgenden zwei Monaten 1 Rubel (ca. 0,32 Euro) nicht überschreiten.

Am 17. April reagierte das MART auf die Kartoffelfrage und verkündete, in Belarus würden Maßnahmen ergriffen, um ausreichende Mengen Kartoffeln sowie anderes Obst und Gemüse in den Läden sicherzustellen. In den darauffolgenden zwei Tagen kontrollierte das Ministerium 20 Gemüselager und fand keinerlei Verstöße. 

„Kartoffeln gibt es genauso auf dem Markt wie alles andere, was in den Borschtsch gehört. Die Regierung hat effektive Maßnahmen ergriffen, um die Situation zu verbessern die durch Preisdifferenzen entstanden waren, aufgrund derer unsere Produzenten auf den ausländischen Märkten größere Gewinne erzielten”, berichtete Darja Poloskowa, Repräsentantin des Ministeriums. 

„Das ist von heute auf morgen [eine Preissteigerung um] 30 Prozent. Inflation haben wir ja keine? Wir halten sie unten, solang es geht, und auf einmal, hopp – 30 Prozent“, kommentierte Wirtschaftsanalyst Sergej Tschaly Poloskowas Aussage.

Zerkalo berichtete, wie in der Oblast Witebsk über tausend Tonnen Kartoffeln „verlorengegangen“ seien – sie sind aus den Verkaufsregistern verschwunden. Über BelPol [ein Projekt mit dem Ziel, „die Verbrechen des Lukaschenka-Regimes zu dokumentieren“] hatte das Medium Zugang zu Chats und E-Mails von Beamten bekommen. 

Außerdem erzählten Journalisten von Zerkalo von einem Brief des MART an das Landwirtschaftsministerium, in dem es vor einem womöglich bevorstehenden „Defizit an frischen Gurken aus den Gewächshausanlagen der Republik auf dem Verbrauchermarkt“ warnte; ebenso erreichten das Ministerium Bitten verschiedener Handelsketten, im April die Versorgung des Marktes mit Gurken zu fördern. 

„Die Kartoffeln im Laden sind jetzt sehr klein – und so grün wie Hulk.” 

Eine Woche nach den Kontrollen des MART spricht man in den Gemüsespeichern von Belarus noch immer von Mangel, den Preisen und der schlechten Qualität nicht nur von Kartoffeln, sondern auch zum Beispiel von Zwiebeln und Kohl. 

„In letzter Zeit ist es plötzlich schwierig geworden, bei Euroopt oder Hit ordentliche Kartoffeln zu finden. Es gibt nur winzige, angeditschte“, erzählte Mediazona eine Befragte aus dem Gebietszentrum. Ein Bewohner einer anderen belarusischen Stadt erzählte, wie er vor ein paar Tagen das ganze Viertel nach Kartoffeln abgesucht hätte. 


„Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen“


Vor drei Tagen postete eine Belarusin ein Video zu dem Thema auf TikTok: „Das Volk beschwert sich, dass die Kartoffeln im Laden jetzt sehr klein sind – und so grün wie Hulk. Die Bauern kontern: Ihr müsst schon entschuldigen, wie sollen wir was verdienen, wenn wir die Preise nicht erhöhen dürfen. Wenn auch ihr beim Einkaufen schlechte Kartoffeln gesehen habt – schreibt in die Kommentare, was denkt ihr, wer ist daran schuld?“ 

In einem anderen TikTok erzählt ein Belaruse, er habe in der Vorwoche mit seiner Mutter in Iwanowo vergeblich nach Kohl gesucht. In vier Geschäften seien sie gewesen, doch weder im Dorf noch in der Stadt habe es Kohl gegeben.

Auf Instagram ist ein Belaruse der Meinung, das mit den Kartoffeln sei ein Desaster: „Auf den Märkten gibt’s ja noch halbwegs irgendwas, aber im Supermarkt – kannst du vergessen.“ Eine andere Belarusin schreibt: „Kartoffeln sind wieder da, aber wo sind nun die Zwiebeln?“ Die Frage, „wieso die Kartoffeln so sauteuer sind“, stellt sich ein Instagram-User bis heute. 

Landwirte und Online-Handel

Ende April wurden Kartoffeln auf verschiedenen Websites des Online-Handels zum Verkauf angeboten, wobei die Preise zwischen 2,74 Rubel und 5,99 Rubel pro Kilogramm lagen, während der offizielle Preis 1 Rubel pro Kilogramm betrug. Mediazona erkundigte sich bei verschiedenen Landwirten, indem er sich als Kunde ausgab. Einer von ihnen nannte direkt seinen Preis: 3,80 pro Kilo. Die anderen sagten, dass sie keine verkaufen würden, sondern dass die neue Ernte im Juni beginnen würde.

👉 Originalquelle Mediazona Belarus
🤝 Veröffentlicht in Zusammenarbeit mit Dekóder

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