Data Covid-19 und Gefängnisse | Teil I

COVID: Wie die Pandemie Europas Gefängnisse trifft

In Gefängnissen breiten sich Viren besonders leicht aus. Doch Behörden veröffentlichen kaum Zahlen über COVID-19-Infekte, Todesfälle oder Impfungen in Europas Gefängnissen. Die DW hat nun Daten aus 32 Ländern analysiert.

Veröffentlicht am 7 Dezember 2021 um 12:42

Vangelis Stathopoulos ist einer von mehr als einer halben Million Menschen in Europa, die die COVID-19-Pandemie in Haft erleben. Er sitzt im Larissa-Gefängnis in Griechenland. Und das ist, wie so viele andere Gefängnisse auch, ein idealer Nährboden für Viren: überfüllt, mit beengten Wohnverhältnissen und oft schlechten hygienischen Bedingungen. 

"Als ich im vergangenen Dezember an COVID erkrankte, war etwa die Hälfte der Gefangenen hier gleichzeitig krank", sagt Stathopoulos. "Wir wurden auf einer Station mit 60 Personen untergebracht, auf einer Fläche von etwa 110 Quadratmetern. Es war reine Glückssache, ob man schwer oder nur leicht erkrankt ist." 

Im Verlauf der Pandemie hat die Öffentlichkeit sich an sorgfältig aktualisierte Corona-Dashboards gewöhnt, mit besonderer Aufmerksamkeit auf Einrichtungen wie Pflegeheime, die für Ausbrüche besonders anfällig sind. Dennoch gibt es kaum öffentliche Informationen über die Verbreitung des Coronavirus in Haftanstalten. 

Gemeinsam mit elf Redaktionen des European Data Journalism Network hat die DW Daten aus 32 Ländern gesammelt, aus denen hervorgeht, wie viele Fälle und Todesfälle in Gefängnissen gemeldet wurden, wie die Impfquoten sich entwickeln, und welche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus getroffen wurden. 

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"Viele Gefängnisse sind überfüllt, Abstand halten ist unmöglich", sagt Filipa Alves da Costa, Beraterin für das "Health in Prisons Programme" der Weltgesundheitsorganisation WHO. "Kommt das Virus also einmal hinein, kann es sich viel leichter ausbreiten." 

Inhaftierte Menschen besonders gefährdet 

Da Costa zufolge ist das Risiko in Gefängnissen vergleichbar mit dem anderer Gemeinschaftsunterkünfte wie Pflegeheime oder Notunterkünfte. 

Viele inhaftierte Menschen weisen mehrere Risikofaktoren für einen schweren Verlauf von COVID-19 auf, darunter Erkrankungen wie HIV, Tabak- oder Drogenkonsum. Marginalisierung, Armut und mangelnder Zugang zur Gesundheitsversorgung fordern oft schon vor der Inhaftierung einen hohen Tribut, und die Haftbedingungen selbst verschärfen den Effekt meist, so die WHO. "Menschen in Gefängnissen betrachten wir bereits in ihren Fünfzigern als ältere Menschen, auch wenn sie das in der Gesellschaft nicht wären", sagt da Costa. 

COVID-Ausbrüche in Gefängnissen betreffen alle 

Ausbrüche in Gefängnissen betreffen nicht nur Menschen, die dort leben oder arbeiten, sondern auch die umliegende Gesellschaft. "Das sind keine völlig geschlossenen Räume", sagt da Costa. "Jeden Tag gehen Menschen ein und aus. Nicht nur das Personal, sondern auch Dienstleister, Anwälte und die Gefangenen selbst. Wenn man also Gefängnisse nicht schützt, schützt man auch den Rest der Gesellschaft nicht." 

In den Vereinigten Staaten, wo die ersten Wellen des Coronavirus 2020 durch die Gefängnisse rollten, zeigen mehrere Fallstudien, dass sich Ausbrüche in Haftanstalten auch auf die umliegenden Gemeinden ausbreiten. Ein landesweiter Vergleich ergab, dass COVID-19-Fälle in Gebieten mit mehr inhaftierten Personen schneller stiegen. Die Studie macht die Masseninhaftierung in den USA, wo mehr als zwei Millionen Menschen in Haft leben, verantwortlich für mehr als eine halbe Million zusätzlicher COVID-19-Fälle innerhalb und außerhalb von Gefängnissen. 

Die aktuellste europaweite Datenerhebung, die von der Universität Lausanne durchgeführt wurde, sammelte COVID-Fallzahlen in Gefängnissen bis September 2020. Seitdem ist mehr als ein Jahr vergangen, mit mehreren Wellen, neuen Varianten und einer weltweiten Impfkampagne. 

Erste Reaktion: Alle Aktivitäten stoppen 

Eine Studie von Forschern aus Barcelona zeigt: Die meisten Länder haben mit Beginn der Pandemie Gefängnisse rigoros abgeriegelt. 

Besuche wurden sofort eingestellt oder stark eingeschränkt. In vielen Gefängnissen wurden Sport, Freizeitaktivitäten und Arbeitszeiten ausgesetzt, Urlaubsregelungen für Gefangene wurden auf Eis gelegt. "Sogar unsere Briefe wurden unter Quarantäne gestellt", erinnert sich Csaba Vass, der in Ungarn inhaftiert ist. In Ländern wie Deutschland, Belgien oder Ungarn wurden Neuankömmlinge und Gefangene, die Symptome zeigten, isoliert. 

Infektionen in Gefängnissen folgen der Allgemeinbevölkerung 

Die von der DW und ihren Partnern gesammelten Daten zeigen nun: Auf den ersten Blick scheinen diese Maßnahmen geholfen zu haben, das Schlimmste zu verhindern: Europäische Gefängnisse sind insgesamt nicht zu COVID-Hotspots geworden. Den verfügbaren Daten zufolge folgen die Infektionsraten in Gefängnissen in vielen Ländern denen der Allgemeinbevölkerung. 

Wo die Infektionsraten in der Allgemeinbevölkerung hoch waren, waren sie auch in den Gefängnissen tendenziell hoch. Dies gilt etwa für Länder wie Slowenien, Estland und Belgien, wo im September bereits mehr als eine von zehn Personen seit Pandemiebeginn positiv getestet wurde. In Ländern wie Kroatien oder Griechenland ist die Infektionsrate bei Gefangenen sogar wesentlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Doch in vielen anderen Ländern blieben die gemeldeten Fälle in Gefängnissen unter dem Niveau der Bevölkerung – selbst in Ungarn und Frankreich, bekannt für ihre überfüllten Gefängnisse. 

Doch auch in Ländern mit niedrigeren Infektionsraten können einzelne Gefängnisse immer noch Schauplatz schwerer Ausbrüche sein. Erst kürzlich wurden mehr als 50 Personen im französischen Gefängnis von Béziers positiv getestet. Dort sind derzeit 638 Personen untergebracht auf einer Fläche, die für 389 Personen ausgelegt ist.  

Fälle und Todesfälle werden möglicherweise nicht gemeldet 

Doch womöglich spiegeln offizielle Zahlen nicht immer die Situation vor Ort wider. Die meisten Gefängnisverwaltungen erheben Daten nicht systematisch, sagt Adriano Martufi, der an der Universität Leiden zu Haftbedingungen in Europa forscht. "Ich glaube, da gibt es sicherlich eine Dunkelziffer", so Martufi. 

Das Larissa-Gefängnis in Griechenland zum Beispiel hatte bis Juli 2021 offiziell nur 200 Fälle gemeldet. Stathopoulos sagt, er habe weit mehr gezählt: "Allein zwischen Dezember 2020 und jetzt hatten wir mehr als 500 Fälle", sagt er. 

Eine solche Untererfassung ist nicht unbedingt vorsätzlich erfolgt, sondern kann auch an organisatorischen Problemen liegen. "Die Gesundheitsdienste in Gefängnissen sind unterbesetzt und schlecht ausgestattet", sagt Martufi. "Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie technisch in der Lage sind, solche Daten zu erfassen und zu verarbeiten." 

Niedrige Fallzahlen zu hohen Preisen 

Selbst wenn man die gemeldeten Infektionszahlen für bare Münze nimmt, haben die Beschränkungen, die zur Eindämmung des Coronavirus auferlegt wurden, oft ihre eigenen Nebenwirkungen. "Die von uns befürchtete Tragödie ist nicht eingetreten, aber nur unter enormen Opfern für die Gefängnisinsassen: keine Aktivitäten mehr, kein Unterricht mehr, keine Arbeit mehr in den Gefängnissen und so weiter", so Dominique Simonnot, Leiterin der unabhängigen Behörde Frankreichs zur Überwachung von Haftbedingungen. "In sozialer Hinsicht ist der Preis exorbitant." 

In den letzten 18 Monaten haben sich Gefängnisse weit über das übliche Maß hinaus abgeschottet. 

In einem Gefängnis auf Malta wurden Neuankömmlinge zwei Wochen lang 23 Stunden am Tag in Isolationszellen festgehalten, mit nur einer Matratze auf dem Boden und einer offenen Bodentoilette – Bedingungen, die das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter bereits 2013 verurteilt hatte. 

Isolationshaft birgt ernsthafte Gesundheitsrisiken 

Die Nelson-Mandela-Regeln der Vereinten Nationen, Standard-Mindestregeln für die Behandlung von Gefangenen, legen fest, dass Isolationshaft nur als letztes Mittel, so kurz wie möglich und niemals länger als 15 Tage angewendet werden sollte. Doch während der Pandemie ist die Isolierung von Gefangenen in vielen Ländern zum Standard geworden. 

In Irland wurden inhaftierte Menschen über 70 oder mit chronischen Krankheiten zwischen April und Juni 2020 automatisch in Einzelhaft untergebracht. Häftlinge in dieser Isolation berichteten von Depressionen und sogar Selbstmordgedanken. In einigen Einrichtungen in Deutschland wurden Untersuchungshäftlinge nach jeder Gerichtsverhandlung für 14 Tage isoliert. 

In Frankreich war eine zweiwöchige Isolation nach jeder Beurlaubung, jedem Familienbesuch oder jeder ambulanten medizinischen Behandlung vorgeschrieben, so Dominique Simonnot, oberste Gefängnisinspektorin des Landes. "Das hat dazu geführt, dass einige diese Besuche verweigern, mit allen Risiken, die das für ihre Gesundheit mit sich bringt." 

Und selbst Personen, die nicht unter Quarantäne standen, waren oft über weite Strecken des Tages auf ihre Zellen beschränkt, Beschäftigungsmöglichkeiten gab es kaum. 

"Rettungsanker" für Gefangene durch Besuchsverbot gekappt 

"Besuche sind für die Gefangenen ein enorm wichtiger Rettungsanker ", sagt Catherine Heard, Direktorin des World Prison Research Programme. "Man kann gar nicht überschätzen, wie wichtig es ist, mit Familien und Angehörigen in Kontakt bleiben zu können." Laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte haben auch Gefangene ein Recht auf Familienleben. 

Im Oktober 2020 traten die Gefangenen des Rec-Gefängnisses in Albanien in Hungerstreik, um gegen die Aussetzung der Besuche zu protestieren. Zu diesem Zeitpunkt konnten sie seit einem halben Jahr lang nur noch telefonisch mit ihren Familien Kontakt halten. 

In Ungarn, so Vass, "hatten wir vor der Pandemie zweimal im Monat zweieinhalb Stunden physischen Kontakt – dass das fehlte, hat sehr ernste psychische Probleme verursacht". Das Gefängnis richtete schließlich Videotelefonie ein, um zumindest virtuelle Besuche zu ermöglichen. "Das machte es einfacher", sagt Vass.  

Die meisten Länder haben Angebote für virtuelle Besuche eingeführt, obwohl Verbindungsprobleme und Nutzungsbeschränkungen immer noch Probleme bereiten: "In vielen Gefängnissen in ganz Europa hat die Entwicklung von Videokonferenzsystemen einen großen Sprung nach vorn gemacht", sagt Martufi. "Das war in vielen Mitgliedstaaten vor der Pandemie absolut undenkbar. Das war eine positive Entwicklung." 

Laut Martufi besteht das Risiko, dass Gefängnisse Videogespräche langfristig als Ersatz für persönliche Besuche einsetzen könnten. "Wir haben Hinweise darauf, dass einige Gefängnisverwaltungen sagen: 'Jetzt habt ihr Skype, damit könnt ihr leben – es ist nicht mehr nötig, dass ihr eure Familie oder eure Anwälte treffen dürft'", sagt Martufi. "Wir wissen noch nicht, wie systemisch diese Veränderung ist, aber das Risiko ist, dass sie uns auch nach dem Ende der Pandemie noch begleiten wird." 

Abgesehen von Videoanrufen sieht Catherine Heard keine großen Bemühungen, die Auswirkungen der Beschränkungen abzumildern. "Mir fällt auf Anhieb keine Maßnahme ein, die wirklich sinnvoll wäre", sagt sie. "Es wurde zum Beispiel eine große Chance verpasst, Lesematerial, aufgezeichnete Informationen oder Zugang zu Online-Kursen bereitzustellen. Es gab eine Menge Dinge, die man hätte tun können und sollen, die aber nicht getan wurden." 

Die Niederlande gehören zu den Ländern, denen es gelang, den Strafvollzug durch Maßnahmen wie Rotationssysteme, in denen Aktivitäten schichtweise in kleineren, festen Gruppen stattfinden, relativ schnell wieder in Gang zu bringen, sagt Heard. Aber die meisten Länder haben solche Maßnahmen nicht umgesetzt. 

Strukturelle Probleme verschlimmerten die Situation 

Wie in so vielen anderen Bereichen der Gesellschaft verschärft die Pandemie auch in Gefängnissen strukturelle Probleme, die schon lange vor der Pandemie bestanden. 

"Einige der strengsten und längsten Einschränkungen wurden in den Ländern mit der größten Überfüllung beobachtet", sagt Heard. Aufgrund von Platzmangel wird Distanz unmöglich, und alternative Maßnahmen werden durch Personalmangel behindert. "Wenn es kein Personal gibt, um die Menschen durch das Gefängnis zu bewegen", sagt sie, "gibt es keine andere Möglichkeit, als sie die meiste Zeit des Tages und der Nacht in ihren Zellen einzuschließen." 

Forscher, Nichtregierungsorganisationen und inhaftierte Personen selbst nennen immer wieder die Überfüllung als zentrales Problem. Jedes dritte europäische Land betreibt seine Gefängnisse über der offiziellen Kapazität. 

In vielen einzelnen Gefängnissen ist die Situation deutlich schlimmer als der Landesdurchschnitt vermuten lässt. "Ich bin in einer Zelle, die für fünf Personen vorgesehen ist – jetzt sind wir zu acht. Es ist unmöglich, Abstand zu halten", sagte ein Hungerstreikender zu Beginn der Pandemie gegenüber einer kroatischen Nachrichtenagentur. "Wir können unsere Frauen und Kinder nicht sehen, und, Gott bewahre, einige von uns sehen sie vielleicht nie wieder. Wir fühlen uns wie Insassen einer Todeszelle, wir warten nur auf das Coronavirus." 

Während der ersten Welle haben viele europäische Länder eine bespiellose Zahl an Menschen entlassen, um die Gefängnisse zu entlasten. "Experten raten schon seit Jahren dazu, aber bisher war das politisch zu riskant", sagt Heard. "Ich glaube, COVID hat vielen Ländern einen Vorwand geliefert, ihre Gefangenenzahlen still und leise zu reduzieren." 

Heard hat errechnet, dass die Zahl der Inhaftierten zwischen März 2020 und Juni 2021 weltweit um bis zu eine halbe Million Menschen gesunken sein könnte. Länder wie Slowenien, Belgien, Frankreich oder Italien, deren Gefängnisse stark überbelegt waren, verringerten ihre Gefangenenzahlen um bis zu 25 Prozent, so dass sie auf oder unter offizielle Kapazität sanken. 

"Eine Lektion, die Länder gelernt haben werden, ist, dass sie ihre Inhaftierungszahlen senken können, ohne dass der Himmel einstürzt", sagt Heard. Die Pandemie habe einen gesundheitspolitischen Grund für die Verringerung der Gefängnispopulationen geboten. Laut Heard ist es jetzt enorm wichtig, dass Länder diesen Trend fortsetzen. 

Die Zahl der Gefangenen steigt wieder 

Inzwischen jedoch steigt die Zahl der Inhaftierten in etwa der Hälfte der untersuchten Länder wieder an – in einigen Fällen sogar über das ursprüngliche Niveau hinaus.  

Gefängnisse in Frankreich, Ungarn oder Slowenien beispielsweise sind auf nationaler Ebene bereits wieder überfüllt, in einzelnen Gefängnissen sieht es noch deutlich schlechter aus. 

Impfungen verzögert 

Während diese strukturellen Probleme eine ohnehin schon vertrackte Situation noch verschlimmern, hängt eine "Rückkehr zur Normalität" in Gefängnissen an der gleichen Hoffnung, die auch für den Rest der Gesellschaft gilt: Impfungen. 

"Als bekannt wurde, dass es einen Impfstoff geben würde, wurden die Menschen ruhiger", sagt Vass in Ungarn. "Soweit ich weiß, haben sich fast alle Häftlinge hier impfen lassen. Ich habe meine erste Dosis im Mai erhalten, die zweite im Juni, und wie viele andere habe ich die dritte im September bekommen."

Aber noch nicht alle Impfwilligen hatten bereits diese Chance. Ein großer Grund für die Verzögerung ist die Tatsache, dass die meisten europäischen Länder Gefangene nicht priorisiert haben – trotz des hohen Risikos für Insassen, Personal und die Allgemeinbevölkerung. Viele haben Menschen in Gefängnissen gar nicht erst nicht erwähnt.  

In Deutschland beispielsweise wurde Menschen in Gemeinschaftsunterkünften wie Altenheimen ausdrücklich Priorität eingeräumt, Gefangene aber parallel zur übrigen Bevölkerung geimpft. 

"Unabhängige supranationale Organisationen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Gefangene vorrangig geimpft werden sollten", sagt Martufi. "Das ist ein gutes Beispiel für die absolute Diskrepanz zwischen den politischen Vorgaben auf der einen Seite und der Realität vor Ort auf der anderen." 

Laut Experten liegt das an einem Mangel an politischem Willen. In einigen Fällen, so Martufi, habe die Politik den frühen Zugang zur Impfung sogar aktiv behindert. "In Belgien wurde die Bevorzugung von Gefangenen zu einer politischen Diskussion", sagt er, "am Schluss sind sie dann bis zur letzten Phase ganz aus der Impfkampagne gefallen." In Italien hingegen sei die Entscheidung, Inhaftierten vorrangigen Zugang zu Impfungen zu gewähren, schlicht ohne große öffentliche Diskussion getroffen worden. 

Die fehlende Priorisierung in vielen Ländern hatte zur Folge, dass sich der Beginn der Impfungen in den Gefängnissen erheblich verzögerte. In einigen Ländern gab es vor Juni keine einzige Impfung in Gefängnissen, während andere bereits Ende März von ersten Impfungen berichteten. 

Durch den zweiten Pandemie-Winter 

Nachdem Impfungen in den Gefängnissen in vielen Ländern schließlich doch noch das Niveau der Allgemeinbevölkerung erreicht hatten und die Zahl der Infektionen während des Sommers gering war, konnten auch in Gefängnissen Menschen aufatmen. Besuche und Aktivitäten wurden vielerorts unter Hygienemaßnahmen wieder aufgenommen. 

Doch mit dem Winter und dem Eintreffen der nächsten Welle in den meisten europäischen Ländern ist klar: Die Pandemie ist nicht vorbei, und schon gar nicht für Menschen in Gefängnissen. "Wir werden unser altes Leben, unsere alten Rechte, nicht so schnell zurückbekommen", sagt Csaba Vass in Ungarn. In Italien zeigen wöchentliche Daten, dass die Zahl der aktiven Fälle beim Personal und bei den Insassen steigt. Und das kroatische Justizministerium bestätigte kürzlich, dass sich inzwischen mehr als 20 % der Inhaftierten mit dem Coronavirus infiziert haben – etwa 1,5 mal so viele wie in der Allgemeinbevölkerung. 

Lehren für die Zukunft 

Nach Ansicht von Experten müssen Länder ihre Gefängnispopulationen drastisch reduzieren, um für solche Situationen in der Zukunft besser gerüstet zu sein. "Wir können keiner weiteren Gesundheitskrise begegnen mit dieser Anzahl an inhaftierten Menschen in Europa", sagt Martufi. "Das muss sinken." 

"COVID hätte ein Weckruf sein sollen, in bessere Haftbedingungen zu investieren und die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren", sagt Catherine Heard.  

Damit dieser Weckruf gehört wird, sind öffentliches Interesse und politischer Wille entscheidend. "Es ist an der Zeit, unsere Wahrnehmung von Gefangenen als Bürger zweiter Klasse zu überdenken", sagt Martufi. "Wir dürfen jetzt niemanden zurücklassen. Das macht es schlimmer für alle." 

Dieser Beitrag wurde von Milan Gagnon, Gianna-Carina Grün und Peter Hille redigiert.  Projektleitung: Deutsche Welle. Mitwirkende: Alternatives Economiques, Civio, El Confidencial, EUrologus, Il Sole24Ore, iMEdD, MIIR, OBC Transeuropa, Openpolis, Pod črto, VoxEurop 

👉 Der Originalartikel bei der Deutschen Welle.

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network


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