Das europäische Projekt ist gescheitert

Die Europäische Union begründet sich auf wirtschaftliche, politische und geopolitische Kriterien, nach denen man sie auch beurteilen sollte. Das Urteil des englischen Historikers Niall Ferguson ist gnadenlos.

Veröffentlicht am 9 Mai 2013 um 11:01

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In der Europäischen Union gibt es dreiundzwanzig Arten, Danke zu sagen. Schon allein deswegen musste das europäische Experiment in einem Fiasko enden. Erinnern Sie sich noch, wie Sie als Kind mit einem Chemiebaukasten herumexperimentierten? Sie haben sicher eine Chemikalie nach der anderen zusammengeschüttet, in der Hoffnung, dass es irgendwann explodiert. Genau das ist in Europa geschehen. Es begann mit sechs, aber das war nicht genug. Es wurden neun… nichts passierte. Bei zehn rauchte es ein bisschen, mehr aber nicht. Zwölf… nichts geschah, fünfzehn… immer noch nichts. Bei fünfundzwanzig fing es an zu brodeln. Bei siebenundzwanzig… dann die Explosion!

„Immer weiter bis auf Null”

Ich bin mir absolut sicher, Lord Mandelson und Daniel Cohn-Bendit werden behaupten, das europäische Experiment wäre gelungen, da seitdem in Europa Frieden herrscht. Stimmt das überhaupt? Die europäische Integration hat absolut nichts mit dem Frieden in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges zu tun. Er wurde durch die NATO gesichert. Bei der Gründung der Europäischen Union ging es nicht um Krieg und Frieden. Sonst würde es eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft geben. Die französische Nationalversammlung hatte 1954 übrigens ihr Veto dagegen eingelegt.

Europa muss in wirtschaftlicher Hinsicht beurteilt werden, da sich die Gemeinschaft selbst Bedingungen rein wirtschaftlicher Natur auferlegte. In den fünfziger Jahren stieg das Wirtschaftswachstum im integrierten Europa auf 4 Prozent an. In den sechziger Jahren war es ähnlich. In den siebziger Jahren lag das Wachstum bei 2,8 Prozent, in den achtziger Jahren sank es auf 2,1 Prozent. In den neunziger Jahren waren es nur noch 1,7 Prozent und so ging es immer weiter bis auf Null. Je mehr die europäische Integration vorangetrieben wurde, desto niedriger wurde die Wachstumsrate. Der Anteil Europas am weltweiten BIP ist seit 1980 von 31 Prozent auf knapp 19 Prozent gesunken. Die Arbeitslosenquote der EU war nicht ein einziges Mal niedriger als die der USA.

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Ist jemand von Ihnen Anleger? Welche waren die schlimmsten Aktienmärkte in den letzten zehn Jahren? Griechenland, Irland, Italien, Finnland, Portugal, die Niederlande und Belgien, der schlechteste der ganzen Welt. Und als Krönung des ganzen haben wir noch die Währungsunion. Dieses ultimative Experiment ist gründlich schiefgegangen. Wir haben davor gewarnt, meine Damen und Herren. Wir haben gesagt, dass eine Währungsunion ohne Arbeitsmarktintegration und Fiskalföderalismus nicht funktionieren kann. Das habe ich bereits im Jahr 2000 prognostiziert.

Wir haben Sie gewarnt!

Auch das politische Experiment ist gescheitert. Wissen Sie, worum es bei diesem Experiment ging? Man wollte sehen, ob man die Europäer mit wirtschaftlichen Mitteln – und gegen ihren Willen – in eine noch engere Union zwingen kann, da alle politischen Mittel versagten.

Jedes Mal, wenn die europäischen Völker gegen eine weitere Integration stimmten, wurden die jeweiligen Regierungen aufgefordert, es erneut zu versuchen. Das passierte 1992 in Dänemark und gleich zweimal, 2001 und 2008, in Irland. Die Bürger haben beim Referendum die falsche Antwort angekreuzt, also musste die Regierung erneut abstimmen lassen. Das Projekt ist gescheitert, weil es seine politische Legitimität verloren hat. Das gilt nicht nur für Griechenland, sondern für eine europäische Regierung nach der anderen. Dreizehn von ihnen sind schon der seit zwei Jahren andauernden Krise zum Opfer gefallen. In den nächsten Monaten werden noch mehr folgen.

Kein Gegengewicht zu den USA

Das europäische Experiment hat schlussendlich auch in geopolitischer Hinsicht versagt. Die Europäische Union sollte ein Gegengewicht zu den USA darstellen. Können Sie sich noch an die Rede Jacques Poos’ 1991 über die „Stunde Europas” erinnern, als er ankündigte, dass Europa den Krieg in Bosnien beenden wird [Er sagte das derzeit nach Ausbruch des Krieges in Slowenien und Kroatien]? Ja, das war 1991. Aber in diesem Krieg starben hunderttausend Menschen, 2,2 Millionen wurden vertrieben und der Konflikt fand erst ein Ende, als die USA einschritten und das Chaos in Ordnung brachten.

Henry Kissinger stellte einst die berühmte Frage: „Wen rufe ich denn an, wenn ich Europa anrufen will?” Die Antwort kam erst einige Jahre später: Sie können Baroness Ashton von Upholland anrufen. Niemand hat jemals etwas von ihr gehört oder gesehen. Meine Damen und Herren, Sie sind Kanadier. Sie wissen, wie schwierig es ist, ein föderales System zusammenzuhalten, auch wenn es nur zehn Provinzen und zwei Sprachen hat. Deshalb werden Sie besser als die meisten Menschen verstehen, warum das europäische Projekt mit siebenundzwanzig Ländern und dreiundzwanzig Sprachen zum Scheitern verurteilt war. Zum Glück muss ich jetzt hier in Kanada nur zwei oder vielleicht drei Worte benutzen. Thank you und merci.

(Dieser Artikel gibt den Beitrag Niall Fergusons als „Pro-Redner” in der Munk-Debatte zur Frage „Ist das europäische Experiment gescheitert?” wieder. Er wurde im April 2013 im Magazin der italienischen Tageszeitung Il Sole 24 Ore unter dem Titel „Angriff auf Europa” veröffentlicht.

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