"The Bleeding Statues" von Tony Lykouresis. Ein Film von 1982, der in diesem Jahr bei der Athen-Biennale gezeigt wird.

Die Athen-Biennale oder die Kunst der Krise

Im Dezember findet — fast unbemerkt — in Athen die dritte Kunstbiennale statt. Die Veranstaltung ist im krisengebeutelten Land der Ort, an dem man die Not des Augenblicks am deutlichsten spüren kann, schreibt eine schwedische Journalistin.

Veröffentlicht am 28 November 2011 um 14:30
"The Bleeding Statues" von Tony Lykouresis. Ein Film von 1982, der in diesem Jahr bei der Athen-Biennale gezeigt wird.

Hunderte von Athenern stehen in der Herbstkälte dicht aneinandergepresst vor der Suppenküche Schlange und warten, dass sie an die Reihe kommen. Ich halte inne und beobachte die Armut vielleicht länger, als dies ein wohlerzogener Mensch machen würde. Ein Mann schnauzt mich an, ich solle mich aus dem Staub machen.

Wir sind nur einen Sprung von Monodrome, der internationalen Kunstbiennale Athens, entfernt. „Monodrome“ könnte man ungefähr mit „Sackgasse“ übersetzen. Die Ausstellung versteht sich als Auseinandersetzung mit der Griechenlandkrise, doch kann ich mich nach meinem Besuch nicht des Eindrucks erwehren, dass sie insgesamt sehr viel über den Zustand des Projekts Europa wiedergibt.

Eine "überflüssige" Veranstaltung

Die Biennale wurde ganz symbolisch in einem verlassenen Schulgebäude eines heruntergekommenen Viertels untergebracht. Ein imposantes Gebäude aus den Dreißigerjahren, das langsam verkommt. Der Putz bröckelt ab. An den Mauern sind noch die Graffiti der Schüler zu sehen. Ein Werk wird von einer Toninstallation begleitet, auf der Menschenmengen Slogans brüllen. Es hallt durch das gesamte Stockwerk und begleitet den Besucher. In einer Ecke steht eine Marmorskulptur, welche zerknitterte Kartons darstellt, wie alte Verpackungen, die man vergessen hätte. In einem anderen Saal sieht man auf einem Monitor einen Zusammenschnitt von Triumphen griechischer Sportler, begleitet vom Jubel der Menschen.

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Weder die Künstler noch der Kurator der Ausstellung werden für ihre Arbeit bezahlt. Auch die alltägliche Arbeit wird von ehrenamtlichen Mitarbeitern geleistet. Sponsoren sucht man vergeblich. Eine so „überflüssige“ Veranstaltung zu unterstützen erscheint womöglich obszön in einer Zeit, in der Griechenland sich am Rande der Implosion befindet.

Manche Kulturschaffende sind seit dem Sommer nicht mehr bezahlt worden

Was aus grundsoliden Ländern wie Schweden gesehen abstrakt wirkte — die Demonstrationen gegen den Sparkurs auf dem Syntagma-Platz, der Stolz der Griechen, die sich weigern, den Buhmännern der Europäischen Union für den Rettungsschirm zu danken — wird vor Ort greifbar und verständlicher.

Die Misere der Stadt und Monodrome sind eins. Von allen Ausstellungen, die ich besucht habe, ist diese vielleicht diejenige, die am tiefsten in ihrer Zeit verankert ist. Sie spiegelt ein Gefühl der Not wieder. Und das ohne einen Star der Kunstszene, ohne kommerzielles Potential. Oder vielleicht gerade deshalb.

„Die Menschen fassen es nicht. Wie konnte das passieren?"

Es ist beeindruckend, dass ein solches Projekt in einer Zeit, in der Griechenlands Kulturbudget zu fast nichts zusammengeschrumpft ist, realisiert werden konnte. Manche Kulturschaffende sind seit dem Sommer nicht mehr bezahlt worden, während gleichzeitig ein Großteil der Mittel für Forschung eingefroren wurde. Doch die Turbulenzen des Finanzsektors ließen die Intellektuellen eher kalt. Wo waren sie eigentlich als es brenzlig wurde und Europa die Luft ausging?, fragte jüngst Thomas Assheuer. Der Kulturjournalist der Zeit prangerte an, dass Deutschland nur mit sich selbst beschäftigt sei und er fragte sich ob „Europa“ nichts anderes mehr sei, als ein politisch korrekter Begriff, den kaum jemand mehr ernst nehme.

In Athen lerne ich alle möglichen Leute kennen: Lehrer, Studenten, Opernsänger... Dimitrios Karamidas, Professor für klassische Philologie, erklärt mir, dass die Gehälter an den Unis teilweise um 40 Prozent gekürzt worden sind. Er erinnert sich an die Krise in den Neunzigerjahren. Damals schrieb er im südschwedischen Lund an seiner Doktorarbeit. Er weist höflich darauf hin, dass Griechenland nicht das einzige Land sei, welches je Probleme hatte und stellt fest, dass überall in Europa der Trend dahingehe, die Unterschiede zwischen den Völkern zu betonen. Und der Stolz der Griechen auf ihre Geschichte würde die Lage nur verschlimmern. „Die Menschen fassen es nicht. Wie konnte das passieren? Wir sind nicht einmal in der Lage, unser eigenes Land zu verwalten und zu reglementieren. Ich kann nur hoffen, dass die Menschen jetzt zusammenhalten und aus der Zwickmühle hinausfinden.“

Von Dogtooth bis Antigone

In Athen kommt mir ein preisgekrönter griechischer Film in den Sinn, Dogtooth, in dem ein Elternpaar seine Kinder von der Außenwelt abschottet, um sie zu schützen. Die verquere Idee einer tödlichen Gefahr draußen — menschenfressende Katzen — kann als Kritik der allzu behüteten Kleinfamilie verstanden werden. Oder als Allegorie der griechischen Gesellschaft, die sich nicht mehr weiterentwickelt und sich von der Außenwelt abschottet.

Vor dem Parlament demonstrieren Kommunisten und Studenten, die aus ganz Griechenland angereist sind. Sie verbrennen die europäische Flagge. Ein Studentin aus Kreta, eine zukünftige Ingenieurin, erklärt mir fast unbeschwert, dass sie erwartet, am Ende ihrer Ausbildung arbeitslos zu sein. Doch wolle sie nicht auswandern, sondern im Land bleiben und kämpfen. Neben ihr räumt ein Straßenfeger die rauchenden Reste der Flagge weg.

Ich frage den Philologen und Spezialisten der antiken Literatur Dimitrios Karamidas, an welche griechische Tragödie er bei der heutigen Lage denke.

„An Sophokles’ Stück Antigone“, antwortet er nach kurzem Nachdenken. „Der Kampf zwischen der alten und der neuen Welt.“ Mit seiner klassischen Ausbildung kennt er das Stück auswendig. Doch der Ausgang der heutigen Seifenoper, welche Europa erlebt, steht alles andere als fest — die Spannung ist erdrückend.

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