Die Europa-Missachter

Der Streit um die Roma sei nur ein Auslöser, aber ein alarmierender, meint der rumänische Publizist Ovodiu Nahoi in seinem Leitartikel. Manche Staaten — an ihrer Spitze Frankreich und Italien — würden die europäischen Werte mit Füßen treten.

Veröffentlicht am 21 September 2010 um 11:14

Die Europäische Union, oder besser gesagt das europäische Projekt ist in einer schweren Krise. Die unpassende Reaktion der französischen Behörden auf das reale Problem der illegalen Roma-Lager wurde zur Debatte über die Werte der Union, als ein französischer Minister Pierre Lellouche, Staatssekretär für Europa-Fragen der Kommission ihre Rolle als "Vertragshüterin" absprach. Können sich die Mitgliedsstaaten im Namen der nationalen Souveränität über die von ihnen unterzeichneten europäischen Verträge hinwegsetzen und einfach nach Gutdünken handeln? Anscheinend ja. Aber gleichzeitig weiter über Europa als Projekt des Friedens und Wohlstands zu schwadronieren, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstand und sich nach Ende des Kalten Krieges nach Osten erweiterte, wird somit zum schlechten Scherz.

Des Weiteren öffnet man Tür und Tor für wirtschaftlichen Protektionismus und den Anstieg von rivalisierenden Nationalismen. Dabei hat uns doch die Geschichte gelehrt, wohin so etwas führt: Die Großen dominieren die Kleinen, Freiheiten werden eingeschränkt, die Demokratien zerbröckeln und letztlich kommt es zum Konflikt. Doch warum handeln manche Politiker so? Weil der Markt es so will. Nach dem Ende der sowjetischen Bedrohung begannen zahlreiche Westeuropäer das gemeinsame Projekt nicht mehr unter dem Aspekt von Frieden und Solidarität zu betrachten, sondern im Sinne von individuellem Verlust oder Profit.

Rumäniens Verwestlichung auf Eis

Auch heute sind Wertvorstellungen weiter im Kampf: Wir haben nichts mit dem zügellosen Kapitalismus der Chinesen gemein, genauso wenig wie mit der russischen Oligarchie. Wir müssen unser Europa verteidigen! Viele vergessen das und werden noch von billigen Populisten in ihrer Ansicht gestärkt. Allen voran Nicolas Sarkozy und Silvio Berlusconi. Werden sie es mit Blick auf ihre kommenden nationalen Wahlen zum Zusammenbruch des europäischen Projekts kommen lassen oder raffen sie sich auf, die Vision einer Weltmacht Europa mitzutragen? Für Rumänien wäre ersteres eine historische Tragödie. Wir haben für unsere Modernisierung keine Alternative zu Europa. Und unter den heutigen Umständen ist es unmöglich, eine andere anzuvisieren.

Mit einigen Nachbarländern würden wir zwangsläufig in jene Nische zurückkehren, aus der wir uns so lange Zeit herausgekämpft haben. Unser Projekt der Verwestlichung, welches vor rund eineinhalb Jahrhunderten von ein paar begeisterten jungen Menschen, die in Paris studiert hatten, begonnen wurde, stünde wieder in Klammern. Die Bedrohung ist real. Daher ist es ratsam, über die momentane Krise der illegalen Roma-Lager hinaus zu sehen. Wir sollten an unsere Werte denken und das Projekt Europa stärken. Wir haben keine andere Wahl! (js)

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