Ideen Tschechische Republik

Die Gefahr des ewigen Wackelkabinetts

Nachdem der Koalitionsvertrag geplatzt ist, hat die konservativ-liberale Regierung am 27. April die Vertrauensfrage gestellt (und überstanden), ohne dass damit die Möglichkeit einer vorgezogenen Parlamentswahl vom Tisch ist. Das nun seit Jahren wackelige Kabinett könnte zu guter Letzt die Kommunisten wieder an die Macht bringen, sorgt sich Ekonom.

Veröffentlicht am 27 April 2012

Der Rhythmus der Kabinettsumbildungen und der ewige Wechsel der Minister hat die Grenze des Akzeptablen erreicht. Sehen wir uns nur die Ministerien für Industrie und Handel, Verkehr, Landwirtschaft und Bildung an, so sind wir derzeit seit September 2006, dem ersten Kabinett [vom ehemaligen Ministerpräsidenten] Topolánek [2006-2009] bereits beim sechsten Verkehrsminister, beim fünften Landwirtschaftsminister, bald beim fünften Bildungs- und vierten Minister für Industrie und Handel. Zudem gab es seit diesem Zeitpunkt drei Ministerpräsidenten.

Ministerverschleiß verhindert politische Entscheidungen

Dies alles in nur fünfeinhalb Jahren. Mit jedem neuen Minister wird das Steuer mehr oder minder in eine andere Richtung gerissen, werden völlig neue Prioritäten gesetzt und viele, selbst gute, in Angriff genommene Projekte unter den Teppich gekehrt.

In den höchsten Rängen der Ministerien zählt nicht mehr Kompetenz oder Loyalität gegenüber dem Staat, sondern vor allem die Ergebenheit gegenüber dem neuen Chef, welcher seinerseits den Appetit seiner politischen Verbündeten sättigen muss, sobald diese öffentliche Gelder verlangen. Kaum hat der frischgebackene Minister in seinem Amt aufgeräumt und die Führungskräfte seines Vorgängers entlassen, kann er sich schon daran machen, seinen eigenen Abgang vorzubereiten.

Seit zwei Wochen steht das Schicksal der gesamten Regierung auf der Kippe. Eine neue Kabinettsumbildung steht auf der Tagesordnung. Zudem scheint in der Gunst der Wähler heute das linke Lager ordentlich zuzulegen. Es könnte also durchaus sein, dass es nicht nur zu einer Kabinettsumbildung, sondern auch in vielerlei Fragen wie Wirtschaft, Schuldenkrise, Europäische Union, Euro, Subventionen, strategische Export-Unterstützung usw. zu einer Neuorientierung der Regierungspolitik kommen wird. [Der Wirtschaftsjournalist der Magazins Ekonom] Josef Pravec hat aufgelistet, was (die sozialdemokratische] ČSSD beabsichtigt, im Vergleich zur konservativ-liberalen Regierung an Änderungen vorzuschlagen.

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Linker Strategiewechsel gegen die Krise

Er schreibt des Weiteren, dass „die Gewerkschaften Druck auf eine Regierungskoalition aus ČSSD und Kommunisten ausüben werden, damit ein wirklich linkes Programm umgesetzt wird. Die Reformen und Maßnahmen, um gegen die Auswirkungen der Finanzkrise anzukämpfen, werden sich also von der heutigen Politik deutlich unterschieden. Zunächst einmal würde der Sparpolitik ein Ende gesetzt und vorrangig eine Konjunkturpolitik unterstützt werden. Dennoch werden Steuererhöhungen der erste Schritt dieser neuen Politik sein. ČSSD-Chef Bohuslav Sobotka, der höchstwahrscheinlich der neue Ministerpräsident würde, spricht sich regelmäßig für eine allmähliche Erhöhung des Steuersatzes um mindestens drei bis vier Punkte aus“.

Die Deklarationen der sozialdemokratischen Spitzenpolitiker zeigen deutlich, dass sie hoffen, in spätestens zwei Jahren [am Ende der laufenden Legislaturperiode] eine von den Kommunisten unterstützte Regierung zu stellen. Ich habe einen Blick auf das Programm der Kommunisten für die Wahlen von 2010 geworfen. In den ersten Zeilen ist Folgendes zu lesen: „Das grundlegende Ziel des Programms der KSČM [Kommunistische Partei von Böhmen und Mähren] ist der Sozialismus. [...] In der Wirtschaft kommt dem kollektiven Eigentum eine Schlüsselfunktion zu.“ Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber was mich betrifft, kann ich nur sagen, dass mir da noch die, sagen wir mal, zwielichtige Nečas-Regierung lieber ist. (js)

Kommentar

Wie lange kann sich Nečas noch halten ?

„Letzte Chance für die Regierung Petr Nečas“, titelt Mladá Fronta Dnes, am Tag, an dem das Kabinett im Parlament die Vertrauensfrage stellt, zwei Jahre vor Ende der Legislaturperiode. Wegen des Korruptionsskandals der Partei Öffentliche Angelegenheiten (VV) platzte am 24. April die Dreierkoalition von ODS, TOP09 und VV.

Die Regierung sollte die Unterstützung der 11 abtrünnigen VV-Abgeordneten rund um die Ex-Vizepräsidentin der VV Karolina Peake bekommen und sich somit eine Mehrheit im Parlament sichern. „Doch für wie lange?“, fragt sich die Tageszeitung aus Prag, die meint, dass die Spaltungen im Regierungslager es schwierig machen werden, Maßnahmen wie die Umsetzung der Rentenreform, die Rückgabe an die Kirche der durch die Kommunisten 1948 beschlagnahmten Güter oder die Direktwahl des Staatspräsidenten durchzusetzen.

Die Demonstration gegen die Sparpläne, welche am 21. April rund 100.000 Menschen versammelte, zeige, dass Nečas’ Regierung auch den Rückhalt der Wähler verliert. Sie seien der politischen Instabilität und zahlreichen Skandale leid, die unter anderem von MF DNES aufgedeckt wurden.

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