Viel Wind um wenig. José Luis Rodríguez Zapatero und Luiz Inácio Lula da Silva beim EU-Lateinamerikagipfel in Madrid, 18. Mai 2010.

Die Krise verbindet — oder nicht

Während der Sturm der Wirtschaftskrise Europa ins Gesicht bläst, endete am 19. Mai der sechste EU-Lateinamerika-Gipfel mit mehreren Handelsabkommen und viel gutem Willen. Doch seien die beiden Kontinente sich nicht viel näher gekommen, findet die lateinamerikanische und spanische Presse.

Veröffentlicht am 20 Mai 2010
Viel Wind um wenig. José Luis Rodríguez Zapatero und Luiz Inácio Lula da Silva beim EU-Lateinamerikagipfel in Madrid, 18. Mai 2010.

"Die Weltwirtschaftskrise dominierte den sechsten EU-Lateinamerika und Karibik-Gipfel, der in Madrid 60 Staats- und Regierungschefs versammelte", resümiert die TageszeitungEl Espectador aus Bogotà. "Das vor elf Jahren in Brasilien zum ersten Mal organisierte Gipfeltreffen soll die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Alter und Neuer Welt fördern. Gute Gründe gibt es dafür genug: Die Union ist der zweitwichtigste Handelspartner Lateinamerikas und der größte Investor in der Region", erklärt El Tiempo.

"Dennoch", fährt die Tageszeitung fort, "der internationale Kontext ist heute komplizierter und schwieriger als bei den vorherigen Treffen. Viel Wasser ist den Fluss hintergeflossen seit dem letzten Gipfel von Lima 2008. Beim ersten Treffen in Rio 1998 war die Union noch Inbegriff des Wohlstands und die meisten lateinamerikanischen Länder in einer schwierigen Phase. Heute ist es umgekehrt: Die meisten lateinamerikanischen Länder bleiben von der Krise verschont, während Europa vor schmerzlichen Einschnitten steht."

Die größte Freihandelszone der Welt

"Die europäischen Regierungen müssen drastische Sparpläne umsetzen; internationale Hilfsprogramme werden da zuerst geopfert",bedauert Los Andes. Das Blatt verweist auf die mageren Ergebnisse bei bestimmten Punkten, wie beispielsweise "die kümmerlichen fünf Milliarden Euro für Mercosur [der lateinamerikanischen Freihandelszone]" oder die insgesamt "drei Milliarden [Hilfe] für ganz Lateinamerika." Die argentinische Tageszeitung hebt zudem hervor, dass "die tiefe Krise, von der Europa geschüttelt wird" bei den Lateinamerikanern "die Sorge auslöst, dass sie dem Export nach Europa schaden wird."

Das bemerkenswerteste Ergebnis des Gipfels ist wahrscheinlich, dass nach Jahren des Zögerns das Freihandelsabkommen mit Peru, Kolumbien und Zentralamerika (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Panama) endlich unterzeichnet wurde und auch die seit langem stockenden Verhandlungen über Mercosur, der Freihandelszone im Süden des Kontinents (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay), wieder aufgenommen wurden, schreibt Página 12. Die Tageszeitung aus Buenos Aires notiert weiterhin, dass die Gespräche "den europäischen Multilaterismus fördern, während die USA in der Region weiterhin bilaterale Verhandlungen bevorzugen."

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Sorgen mit Finanzmärkten in Europa, mit Menschenrechten in Lateinamerika

Dennoch, meint El País, seien die Beziehungen zwischen den Ländern Europas und Lateinamerikas immer noch im Wesentlichen bilateral. Der Gipfel von Madrid beweise dies: Die politischen Führungen beider Kontinente "nutzen den Gipfel zum Dialog", aber selten für mehr, denn "Lateinamerika ist kein einzelner Verhandlungspartner, was bei der Europäischen Union mehr oder weniger der Fall ist." Der Gipfel "hätte den Höhepunkt der spanischen EU-Ratspräsidentschaft darstellen sollen", doch er reiche nicht aus, diese noch zu retten, denn sie wurde "von den Unruhen auf den Finanzmärkten und der Rezession überschattet", meint El Periódico aus Barcelona. Die Kollegen von La Vanguardia sprechen gar von "einem Gipfel ohne Ziel, wo man über Multilaterismus, Immigration und Energie diskutierte: über alles und nichts."

La Jornada unterstreicht die Willensbekundungen der Teilnehmer "gegen die Straffreiheit" von Diktatoren beider Kontinente bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzugehen. Ebenso bei "Gewalt gegen Frauen und Feminizid." Man habe zwar über Menschenrechte und Gewalt gegen Frauen geredet, wie die mexikanische La Jornada schreibt, aber kein Wort zu Kuba, sagte die einflussreiche Bloggerin Yoani Sanchez der ABC. Für sie ist "die gemeinsame Position der Union in der Menschenrechtsfrage das wichtigste Druckmittel gegen das kubanische Regime."

Abwesenheit zahlreicher Spitzen: Lateinamerika bleibt spanische Angelegenheit

"Das Fehlen zahlreicher Spitzen auf europäischer Seite" — wie Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy oder Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi — aber auch auf lateinamerikanischer — wie Venezulas Hugo Chávez oder der Kubaner Raúl Castro — haben den von Madrid bekundeten "Willen zur Einheit" zwischen den "globalen Verbündeten" zunichte gemacht, bedauert Los Andes. Was La Vanguardia zur Äußerung veranlasst, dass "für einen Großteil der Union Lateinamerika vor allem eine Sache der Spanier ist."

Verständlich, meint El Tiempo: "Die meisten der siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten haben keine kulturelle oder historische Bindung zu Lateinamerika. Nimmt man dann die Wirtschaftskrise dazu, so ist es unwahrscheinlich, dass der lateinamerikanische Kontinent in Zukunft auf der anderen Seite des Atlantiks an Bedeutung gewinnt." (js)

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