Die schlafende Schönheit

Die Regierung Merkel nötigt die Südländer zu tiefgreifenden Reformen und leugnet doch die gesamteuropäische Verantwortung für die Folgen der Krisenpolitik. Eine fatale Haltung für Europa, insbesondere wenige Wochen vor der Bundestagswahl, meint der Philosoph Jürgen Habermas.

Veröffentlicht am 16 August 2013 um 08:03

Unter der beschwörenden Überschrift „Kein deutsches Europa!“ hat Wolfgang Schäuble kürzlich in einem gleichzeitig in Großbritannien, Frankreich, Polen, Italien und Spanien veröffentlichten Zeitungsaufsatz dementiert, dass Deutschland eine 2013 politische Führungsrolle in der Europäischen Union anstrebe („Süddeutsche Zeitung“, 20. Juli 2013).

Schäuble, der in Merkels Kabinett, neben der Arbeitsministerin, als letzter „Europäer“ westdeutschen Zuschnitts übrig geblieben ist, spricht aus Überzeugung. Er ist alles andere als ein Revisionist, der die Einbindung Deutschlands in Europa rückgängig machen und damit die Grundlage für die Stabilität der Nachkriegsordnung zerstören möchte. Er kennt das Problem, dessen Wiederkehr wir Deutschen fürchten müssen.

Nach der Gründung des Kaiserreichs im Jahre 1871 hatte Deutschland in Europa eine verhängnisvolle, halb hegemoniale Stellung eingenommen – nach dem inzwischen geflügelten Wort Ludwig Dehios „zu schwach, um den Kontinent zu beherrschen, aber zu stark, um sich einzuordnen“. Auch das hat den Weg in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts geebnet. Dank der gelungenen europäischen Einigung konnte nicht nur das geteilte, sondern auch das vereinigte Deutschland nicht wieder in das alte Dilemma geraten. Es liegt offensichtlich im Interesse der Bundesrepublik, dass sich daran nichts ändert. Aber hat sich die Situation nicht geändert?

Die Risse im europäischen Gebäude

Wolfgang Schäuble reagiert auf eine aktuelle Gefahr. Er selbst ist es ja, der Angela Merkels sturen Kurs in Brüssel durchpaukt und die Risse spürt, die den Kern Europas auseinanderbrechen lassen könnten. Er ist es, der im Kreise der Finanzminister der Europäischen Währungsgemeinschaft auf den Widerstand der „Nehmerländer“ stößt, wenn er wieder einmal Versuche zu einem Politikwechsel blockiert. Dafür ist die Verhinderung einer Bankenunion, die die Kosten der Abwicklung maroder Banken vergemeinschaften würde, nur das jüngste Beispiel.

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Keinen Millimeter weicht Schäuble von der Vorgabe der Kanzlerin ab, den deutschen Steuerzahler mit nicht mehr als genau dem Umfang von Kreditzusagen zu belasten, den die Finanzmärkte für die Rettung des Euro jeweils verlangen – und den sie
als Konsequenz einer unverhohlen anlegerfreundlichen „Rettungspolitik“ auch stets bekommen haben.

Dieser beinhart verfolgte Kurs schließt natürlich eine Geste von 100 Millionen für Mittelstandskredite nicht aus, die der reiche Onkel aus Berlin den gebeutelten Vettern in Athen aus dem nationalen Banktresor anreicht. [[Tatsache ist, dass die Regierung Merkel Frankreich und den „Südländern“ ihre umstrittene Krisenagenda aufnötigt, während die Ankaufpolitik der
Europäischen Zentralbank uneingestandene Rückendeckung leistet.]]

Gleichzeitig verleugnet Deutschland jedoch die gesamteuropäische Verantwortung für die desaströsen Folgen, die sie in Ausübung dieser – wie bitte? doch ganz normalen – machtpolitischen Rolle übernimmt.Denken wir nur an die horrende Jugendarbeitslosigkeit im Süden Europas als eine der Folgen einer Sparpolitik zu Lasten der jeweils schwächsten Glieder der Gesellschaft.

In diesem Licht gewinnt die Botschaft „kein deutsches Europa“ auch den weniger schönen Sinn, dass sich die Bundesrepublik wegduckt. Formal gesehen, beschließt der Europäische Rat einstimmig. Als nur eines von 28 Mitgliedern kann Angela Merkel nationale Interessen, oder was sie dafür hält, ungehemmt verfolgen. Die deutsche Regierung zieht aus der wirtschaftlichen
Dominanz des Landes so lange Vorteil, sogar einen überproportionalen Vorteil, wie bei den Partnern keine Zweifel an der politisch ehrgeizlosen Europatreue der Deutschen aufkommen.

Aber wie lässt sich die Demutsgeste gegen den Augenschein einer Politik glaubhaft machen, die das eigene wirtschaftliche und demografische Übergewicht unverfroren ausspielt? Wenn beispielsweise schärfere Abgasregeln für den neureichen Protz der Luxuslimousinen – doch ganz im Sinne der Energiewende – die deutsche Autoindustrie belasten sollen, muss auf Intervention der Kanzlerin die Abstimmung eben so lange verschoben werden, bis die Lobby zufrieden oder die Bundestagswahl vorbei ist. Schäubles Artikel antwortet, so scheint mir, auf die Irritationen, die das doppelgleisige Spiel der Bundesregierung im Kreise der Regierungschefs der anderen Euro-Länder auslöst.

Politik ökonomischer Dominanz

Gegenüber Frankreich und den Krisenländern forciert eine zunehmend isolierte Bundesregierung im Namen vermeintlich alternativloser Marktimperative eine harte Sparpolitik. Gegen die Tatsachen geht sie davon aus, dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsgemeinschaft über ihre jeweilige Haushalts- und Wirtschaftspolitik selbst entscheiden können. Erforderlichenfalls sollen sie mit Hilfe von Krediten aus dem Rettungsfonds, aber in eigener Regie, Staat und Wirtschaft „modernisieren“ und ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern.

[[Diese Souveränitätsfiktion ist bequem für die Bundesrepublik, denn sie erspart dem stärkeren Partner die Rücksichtnahme auf negative Effekte, die eigene Politiken für die schwächeren Partner haben können.]] Demgegenüber hatte Mario Draghi schon vor einem Jahr angemahnt, „dass es weder legitim noch ökonomisch tragbar ist, wenn die Wirtschaftspolitik einzelner Länder über Grenzen hinweg Risiken für die Partner in der Währungsunion mit sich bringt“ („Die Zeit“, 30. August 2012).

Man muss es immer wieder sagen: Die suboptimalen Bedingungen, unter denen die Europäische Währungsgemeinschaft heute operiert, verdanken sich dem Konstruktionsfehler einer nicht vollendeten Politischen Union. Deshalb liegt der Schlüssel nicht im kreditfinanzierten Abschieben der Probleme auf die Schultern der Krisenländer. Das Oktroy von Sparpolitiken kann die in der Währungszone bestehenden ökonomischen Ungleichgewichte nicht beheben.

Eine Angleichung dieser Niveauunterschiede wäre auf mittlere Sicht allein von einer gemeinsamen oder eng aufeinander abgestimmten Fiskal-, Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erwarten. Und wenn man sich auf diesem Wege nicht vollends in eine Technokratie hineinschmuggeln will, muss man die Bevölkerungen fragen, was sie von einem demokratischen Kerneuropa halten. Wolfgang Schäuble weiß das. Er sagt es auch in SPIEGEL-Interviews, die für sein eigenes politisches Handeln allerdings keine Folgen haben.

Die politische Union fehlt

Die europäische Politik sitzt in einer Falle, die Claus Offe scharf beleuchtet hat: Wenn wir die Währungsunion nicht preisgeben wollen, ist eine institutionelle Reform, die Zeit braucht, einerseits notwendig, andererseits unpopulär. Darum schieben Politiker, die wiedergewählt werden wollen, dieses Problem vor sich her. In der Zwickmühle sitzt vor allem die deutsche Regierung, denn sie hat durch ihr Tun längst eine gesamteuropäische Verantwortung übernommen.

Sie ist auch die einzige, die eine aussichtsreiche Initiative zu einem Schritt nach vorn ergreifen kann – und Frankreich dafür gewinnen müsste. Es geht ja nicht um Peanuts, sondern um ein Projekt, in das seit mehr als einem halben Jahrhundert die profiliertesten Staatsmänner Europas ihre besten Kräfte investiert haben.

Was heißt, auf der anderen Seite, eigentlich „unpopulär“? Wenn eine politische Lösung vernünftig ist, sollte sie einem demokratischen Wählerpublikum zuzumuten sein. Und wann, wenn nicht vor einer Bundestagswahl? Alles andere ist bevormundende Verschleierung. Die Unterschätzung und Unterforderung von Wählern ist immer ein Fehler. Ich halte es für ein historisches Versagen der politischen Eliten in Deutschland, wenn sie weiterhin die Augen schließen und so tun, als wäre business as usual, also das kurzsichtige Gerangel über Kleingedrucktes hinter verschlossenen Türen, die Antwort der Stunde.

Offensive Europapolitik ist notwendig

Stattdessen müssten sie ihren unruhig gewordenen Bürgern, die als Wähler niemals mit europäischen Fragen von Gewicht konfrontiert worden sind, reinen Wein einschenken. Sie müssten einen unvermeidlich polarisierenden Streit über Alternativen, von denen keine kostenlos zu haben ist, offensiv führen.

Sie dürften auch nicht länger über die negativen Umverteilungseffekte schweigen, die die „Geberländer“ im eigenen langfristigen Interesse kurz- und mittelfristig für die einzige konstruktive Lösung der Krise in Kauf nehmen müssten. Wir kennen die Antwort von Angela Merkel – tranquillistisches Herumwursteln. Ihrer öffentlichen Person scheint jeder normative Kern zu fehlen.

Seit dem Ausbruch der Griechenlandkrise im Mai 2010 und der dann doch verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ordnet sie jeden ihrer überlegten Schritte dem Opportunismus der Machterhaltung unter. Die clevere Kanzlerin laviert sich seitdem mit klarem Verstand, aber ohne erkennbare Grundsätze durch und entzieht der Bundestagswahl zum zweiten Mal jedes kontroverse Thema, ganz zu schweigen von der sorgfältig abgeschotteten Europapolitik.

Sie kann die Agenda bestimmen, denn die Opposition müsste, wenn sie mit dem affektiv besetzten Europathema vorpreschte, befürchten, mit der Keule der „Schuldenunion“ erschlagen zu werden. Und zwar von den Leuten, die nur das Gleiche sagen könnten, wenn sie überhaupt etwas sagen würden. Europa befindet sich in einem Notstand, und die politische Macht hat, wer über die Zulassung von Themen zur Öffentlichkeit entscheidet.

[[Deutschland tanzt nicht, es döst auf dem Vulkan.]] Versagende Eliten? Jedes demokratische Land hat die Politiker, die es verdient. Und von gewählten Politikern ein Verhalten jenseits der Routine zu erwarten hat etwas Apartes. Ich bin froh, seit 1945 in einem Lande zu leben, das keine Helden nötig hat. Ich glaube auch nicht an den Satz, dass Personen Geschichte machen, jedenfalls nicht im Allgemeinen.

Ich stelle nur fest, dass es außerordentliche Situationen gibt, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Phantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft des handelnden Personals für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen.

Jürgen Habermas :

„Wir brauchen eine Gemeinschaftssolidarität”

Anlässlich des 23. Weltkongresses der Philosophie vom 4. bis 10. August 2013 in Athen sprach der deutsche Philosoph Jürgen Habermas über die Gegenwart und Zukunft Europas. Im Rahmen einer Pressekonferenz erklärte er, dass „die Regierungen, die ihre Sparprogramme aufoktroyiert haben, nun die Verantwortung für die Folgen in den südlichen Ländern übernehmen müssen”, berichtet To Vima.

Um wachsenden Nationalismus in Europa zu vermeiden, müssten „die europäischen Bürger aufgeklärt und eine Gemeinschaftssolidarität entwickelt werden. Im Gegensatz zum Europäischen Parlament wählt man in jedem Land nach nationalen Interessen”. Für den deutschen Philosophen sind demnach Reformen unabdingbar. Mindestens fünf Jahre bräuchte es, um die Wählerschaft und die Bürger der europäischen Länder ausreichend zu informieren:

Wir müssen uns näher mit den Fragen, die alle Europäer beschäftigen, den Rechtssystemen und Institutionen auseinandersetzen und über die komplexen europäischen Fragen besser informiert sein. Diese Sensibilität für eine Politik der Zusammenarbeit sollte die öffentliche Debatte bestimmen.

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