Die Welt braucht Europa

Die Eurokrise und die ewigen politischen Uneinigkeiten zwischen den EU-Staaten haben die Bedeutung des Alten Kontinents auf der internationalen Bühne geschwächt. Es ist Zeit zu reagieren, meint der Publizist Moisés Naim, denn die Alternativen — amerikanische Hegemonie, chinesischer Kommunismus oder russischer Autoritarismus — sind keinen Deut attraktiver.

Veröffentlicht am 20 Dezember 2010 um 11:37

Europas wachsende Bedeutungslosigkeit auf internationalem Parkett vorauszusagen ist so geläufig geworden wie das Spotten über die Dummheiten aus Brüssel. In ein paar Jahrzehnten wird das wirtschaftliche Gewicht Europas in der Welt von derzeitigen 20 Prozent auf unter 10 Prozent gesunken sein.

Und die Entscheidungen aus Brüssel rufen nicht gerade Begeisterungsstürme hervor. Zu Recht. Meine jüngsten Besuche in Brüssel haben meine Vermutungen bestätigt: Momentan ähnelt das europäische Projekt eher einer Arbeitsbeschaffungsmaβnahme für Beamte als einer Idee, die Hoffnungen schürt und frischen, gut tuenden Wind in den Kontinent bläst.

Deutschland, „der Henker der Einheitswährung“

Die Unfähigkeit der Union, die Wirtschaftskrise zu bewältigen, ist nur ein weiteres Symptom des tiefer greifenden Problems der politischen Führung. Warum wurde Europa von der weltweiten Krise stärker und nachhaltiger getroffen als alle Anderen? Die Irlandkrise lässt den Pessimismus noch weiter steigen. Gideon Rachmanschreibt beispielsweise in der Financial Times: „Angesichts der aktuellen Lage gehe ich jede Wette ein, dass die Gemeinschaftswährung verschwinden wird.

Ihr Henker heißt Deutschland.“ Er geht in der Tat davon aus, dass den Deutschen, angesichts der immer neuen Krisen, der Geduldsfaden reißen wird. Sie haben immer mehr den Eindruck, dass sie die volle Zeche zahlen, während die anderen Länder der Situation nicht gewachsen sind. Ergebnis: „Deutschland wird von seiner historischen Verpflichtung, Europa mit aufzubauen, entbunden.“

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Der Zusammenbruch des europäischen Währungssystems wäre selbstverständlich ein harter, vielleicht fataler Schlag für das Projekt eines vereinten Europas. Das ist evident. Weniger evident ist, dass das Fehlen eines vereinten und einflussreichen Europas ein Verlust für den Rest der Welt darstellen wird. Europa übermittelt dem Rest der Welt Werte und geht mit gutem Beispiel voran wie keine andere Region der Welt.

Die EU als Alternative zu Chinas Kommunismus und Putins Russland

Der wirtschaftliche und politische Niedergang Europas schwächt seinen positiven Einfluss. Seine Ablehnung des Kriegs, die Lehren, die aus den zwei grausigen Konflikten des 20. Jahrhunderts gezogen worden sind, bringt Europa nur den Spott jener ein, die Pazifismus mit Schwäche verwechseln. Doch ist eine Welt, in der eine Macht einen Krieg vermeidet auf die Gefahr hin, sich zu irren, immer noch besser als eine, in der Supermächte „Präventivkriege“ anzetteln, ohne sich die Frage zu stellen, ob sie sich vielleicht irren. Wenn Regierungen beginnen Grundrechte zu verletzen, Gegner aus dem Verkehr zu ziehen und Journalisten einzusperren, wer sollte da Ihrer Meinung nach das Letzte Wort in der internationalen Gemeinschaft haben? Die Kommunistische Partei Chinas? Putins Russland? Oder Europa?

In einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten die ungerechteste Umverteilung der Reichtümer seit einem Jahrhundert toleriert, in der Russland oder China ihre Neureichen feiern, die unvorstellbare Vermögen anhäufen, reagiert Europa weiter allergisch auf Ungleichheiten. Was ist Ihnen lieber? Eine Welt, in der 1 Prozent der Bevölkerung 95 Prozent aller Reichtümer besitzt und wo die verarmten Massen sich um die verbliebenen 5 Prozent streiten? Oder eine Welt, die von einer breiten Mittelschicht mit wachsendem politischem Einfluss dominiert wird?

Europa stellt das zweite Szenario dar. Wir wissen, dass das soziale Modell Europas das beste der Welt ist. Wir wissen auch, dass das Leben in vielen Ländern unerträglich ist. Doch ein Modell, in dem Millionen von Menschen von der Gesundheitsversorgung ausgeschlossen sind oder an den sozialen Rand gedrängt werden, sobald sie ihre Arbeit verlieren oder in Rente gehen, ist auch unerträglich und kaum nachahmenswert. Die europäische Entwicklungshilfe ist in der Regel wirkungslos. Doch niemand zeigt sich den Armen gegenüber großzügiger als die Europäer.

Die EU, das ehrgeizigste Projekt seit Menschengedenken

Aufgrund der Globalisierung muss eine wachsende Zahl von Problemen in Kooperation von mehreren Ländern gelöst werden. Das europäische Experiment einer kollektiven Regierung ist das ehrgeizigste Projekt seit Menschengedenken. Sein Scheitern würde zahlreiche Länder dazu bringen, diesen Ehrgeiz aufzugeben und für lange Zeit nichts derartiges mehr zu wagen. Diesen Zeitverlust können wir uns nicht leisten. Ich weiß nicht, ob das Projekt der europäischen Integration die riesigen Hindernisse meistern wird. Aber eins weiß ich: Sollte es fehlschlagen, wäre dies ein Misserfolg für die ganze Welt. (js)

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