Nachrichten Der Kampf gegen die Kartelle

Die Whistleblower aus Brüssel (2/2)

Ende Juni gab die Europäische Kommission bekannt, dass sie wegen illegaler Absprachen im Derivategeschäft gegen 13 Großbanken ermitteln wird. Wenn sie heute immer öfter in der Lage ist, gegen diese Art von Betrug vorzugehen, dann oft aufgrund von Denunziationen aus den Reihen der Kartelle selbst.

Veröffentlicht am 10 Juli 2013 um 10:48

Tausende von Vorkehrungen werden getroffen, um den Ermittlern zu entkommen. In Deutschland kauften Manager eines Herstellers von Feuerwehrfahrzeugen Prepaid-Handys, ohne namentliches Abonnement, um diskret miteinander zu kommunizieren. Genau wie die Drogenhändler der Vororte von Baltimore in der Kultserie „The Wire“!

In der Luftfracht — einem Sektor, in dem Brüssel im vergangenen Jahr hohe Geldbußen von insgesamt 169 Millionen Euro verhängt hat — richteten Manager von Großunternehmen extra Emailkonten bei Yahoo! ein, um nicht die Server ihrer Firmen zu nutzen. Die Person, die das Kartell koordinierte war ein Gartenfan. Weshalb er mit seinen Kollegen einen „Gartenverein“ gründete, wo über „Spargel“ oder „Zucchini“ gesprochen wurde. Jede Gemüsesorte bezeichnete einen bestimmten Zuschlagsmechanismus.

Oftmals erklärt genau diese Raffinesse, warum die Kartelle jahrelang überleben. Doch auch dieses Kartell ist schließlich gestolpert, wie viele andere zuvor. Es kommt immer der Augenblick, an dem ein Mitglied seine Komplizen verrät. Manchmal kommen die Informanten aus einer der Firmen des Kartells, doch hat ihr Verrat nicht unbedingt die Gründe, die man annimmt. So erinnert sich ein EU-Beamter an einen Manager, der mit einem Stapel kompromittierender Dokumente seiner Firma ins Büro gestürzt kam. Ein weißer Ritter? Nicht wirklich. Der Chef des Kartells unterhielt eine Liaison mit der Frau des „Whistleblowers“, der hier die Gelegenheit nutzte, um sich zu rächen...

Verräter aus den eigenen Reihen

Die meiste Zeit werden die Kartelle von Unternehmen angezeigt, die daran selbst beteiligt sind. Manchmal funktionieren sie dann so gut, dass mit der steigenden Zahl von Beteiligten die Loyalität der einzelnen zu schrumpfen beginnt. Es kommt auch vor, dass sich Brüssel für eine verwandte Branche interessiert, was Panik auslöst. So teilte der „Gartenverein“ Lagerhallen mit jenen großen Luftfrachtunternehmen (Air France-KLM, British Airways, Air Canada...), die 2010 in einem anderen Fall von der EU-Kommission hart bestraft worden waren. „Das hatte vermutlich zum Nachdenken gebracht, so dass sich die Deutsche Post letztlich entschloss, die Gartenfreunde zu denunzieren“, meint ein Experte. Doch der Hauptgrund, warum ein Kartell auffliegt, ist meist viel banaler: Eine der beteiligten Firmen ist aufgekauft worden. Der neue Besitzer bekommt Wind von der Sache und, um nicht selbst weiter verstrickt zu werden, lässt er sie hochgehen.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Wer ein Kartell „hochgehen“ lassen will, muss schnell handeln. Oftmals kommt diese Idee den Beteiligten sogar gleichzeitig. Auch wenn sie jahrelang zusammengearbeitet haben, ist gegenseitiges Vertrauen äußerst selten. Und der Erste, der bei der EU-Kommission vorstellig wird, geht straffrei aus. Es steht dermaßen viel auf dem Spiel, dass die Firmen oftmals noch vor dem Europäischen Gerichtshof über die von der EU-Kommission aufgestellte Denunzianten-Reihenfolge streiten. Ein Platz mehr oder weniger kann manchmal mehrere zig Millionen Euro Bußgeld bedeuten. Um ihre Reihenfolge festzulegen, zieht die EU-Kommission nicht nur den Zeitpunkt der Selbstanzeige in Betracht, sondern auch den Wert der Aussage einer Firma für die Ermittlungen selbst.

Kronzeugen erleichtern die Arbeit

Ein „Kronzeuge“ erleichtert die Arbeit der Kommission ungemein. Organisation des Kartells, Zielsetzungen, Zahl der Mitglieder: Die Geständnisse geben ihr ein genaues Bild. Doch bevor es zu harten Strafen kommen kann, müssen noch weitere Beweise her: kompromittierende Dokumente, verdächtige Emails. Beweise, an die man nicht ohne eine Operation herankommt, die in jedem Punkt an eine Polizeirazzia erinnert. Und genau daran erinnern die unangemeldeten Durchsuchungen der EU-Beamten. Sie kommen als Gruppe, weigern sich in der Regel, gemeinsam den Aufzug zu nehmen — man könnte ja „zufälligerweise“ stundenlang drin festsitzen — und machen sich daran, alles zu durchstöbern, Aktenschränke wie Computer. Auch SMS und Handys werden durchsucht, unter Siegel gelegt. Manchmal stößt man auf Scheidungsunterlagen oder auf Emails von Geliebten. Doch meistens finden die Beamten, was sie suchen — außer im Fall von Verleumdung.

Einmal warf ein erschrockener Manager kompromittierende Dokumente in die Toilette. Als der Anwalt des Unternehmens es merkte, brach allgemeine Panik aus. Die Mitarbeiter des Unternehmens ließen die kompromittierenden Papiere aus der Kanalisation bergen, von Nässe gewellt, aber durchaus noch brauchbar.

Lieber mit Brüssel zusammenarbeiten

Heute weiß jeder in Europa, was ihn erwartet. Lieber mit Brüssel zusammenarbeiten und eine saftige Geldstrafe vermeiden. Sieht man sich die Namen der Unternehmen an, die ein Kartell bei der EU-Kommission angezeigt haben, begibt man sich auf eine Weltreise: Man findet Firmen von überall... nur nicht aus Frankreich, abgesehen von Rhône Poulenc [heute Sanofi-Aventis]. Vor fünfzehn Jahren zeigte der Konzern zwei Kartelle an, darunter das sogenannte Vitamin-Kartell. In Deutschland wurden die Firmen vor zehn Jahren vom Korruptionsskandal der Siemens AG traumatisiert. Sie zögern heute nicht mehr, um Kartelle „zu verpfeifen“.

Die italienischen Konzerne legen in diesem Zusammenhang ebenfalls keinen sonderlichen Fleiß an den Tag. Im Jahr 2002 trotzte der Italiener Deltafina dem stillschweigenden Verbot und zeigte eine Preisabsprache auf dem italienischen Rohtabakmarkt an. Hat ihr eigener Mut der Firma Angst gemacht? Beim darauffolgenden Treffen des Kartells warnte das Unternehmen die anderen der Gruppe. Ein Verhalten, das von Brüssel ausdrücklich untersagt wird. Deltafina verlor ihre Immunität — und musste wie alle anderen auch Strafe zahlen. So schwer kann es sein, gegen gewisse kulturelle Reflexe anzukämpfen.

Lesen Sie den ersten Teil dieses Artikels

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema