„Amerika innoviert, China kopiert, Europa reguliert – der Draghi-Bericht in sechs Worten.“ So tweetete der ehemalige Financial Times Redakteur Lionel Barber. Mit einem bekannten Meme fasste er den Bericht des ehemaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi über „Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ zusammen.
Um eine Schlagzeile des Wall Street Journal vom Juni 2024 aufzugreifen, scheint eine flüchtige Lektüre von Draghis Bericht darauf hinzudeuten, dass Europa „seinen Weg zum letzten Platz reguliert“: Im gesamten Bericht finden wir Formulierungen wie „restriktive Vorschriften“, „Asymmetrien in der Regulierung“, „Regulierung wird von mehr als 60 % der EU-Unternehmen als Investitionshindernis angesehen“, „Last der Regulierung“, „hohe Kosten für die Einhaltung von Vorschriften“, „regulatorische Belastung“ und „Hindernisse durch die zunehmende Regulierung“.
Wie Professorin Cristina Caffarra vom University College London für das Centre for Economic Policy Research jedoch klarstellt, befürwortet Draghi „keinen Laissez-faire-Ansatz [...] – Musik in den Ohren der US-Tech-Giganten, die der Kontrolle der Europäischen Kommission unterliegen“. Dies, so Caffarra, „ist eine Fehlinterpretation dessen, was Draghi sagt, und wird von den Vertretern der Big Tech und der etablierten Telekommunikationsunternehmen in ihrer Kampagne instrumentalisiert, um Vetos gegen Fusionen abzuwehren und die Regulierung einzuschränken. [...] Im Grunde genommen sollte man die folgende Botschaft von Draghi (paraphrasiert) mitnehmen: Was auch immer die Wettbewerbshüter tun, es hilft nicht wirklich, Innovation und Wachstum in Europa zu fördern. Das Ziel wird nicht erreicht. Wir brauchen mehr und andere Maßnahmen. [...] Keine Silos. Vernetztes Denken.“
Im New Statesman sieht der Direktor von Eurointelligence Wolfgang Münchau gerade in den Regulierungen im Tech-Sektor eine direkte Bedrohung für Europas Bedeutung in der Welt der Zukunft: „Die EU hat sich ein so restriktives Datenschutzregime auferlegt, dass es ein Hindernis für die Entwicklung von künstlicher Intelligenz darstellt. Sie hat ein Gesetz über digitale Dienste eingeführt, das soziale Medienplattformen als feindlich gegenüber der europäischen Kultur behandelt. [...] Die EU steckt in einer Technologiefalle des Maschinenbaus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts fest.“
Obwohl er offensichtlichen Respekt vor Draghis Analyse und Vision für Europa hat, sieht Münchau nicht viel Hoffnung für die effektive Umsetzung der Lösungen des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten. Mit Blick auf den Brexit als sinnbildliches „Unglück“ für die Aussichten auf eine stärkere europäische Integration zeichnet Münchau ein düsteres Bild: „Die EU hat nicht das Geld, um die Investitionen mitzufinanzieren. Dazu müsste sie selbst ein souveränes Land werden, das die Macht hat, Steuern zu erheben und Schulden zu machen. Aber genau hier liegt das Problem: Eine gescheiterte EU mit einer starken Präsenz rechtsextremer antieuropäischer Parteien wird diese Kompetenzen nicht übernehmen. Eine stärkere europäische Integration bleibt notwendig. Aber ich glaube, dass die Zeit dafür vorbei ist. Deshalb ist der Niedergang das wahrscheinlichste Szenario. Ich rechne allerdings nicht mit einem formellen Auseinanderbrechen. Stillstand ist der Weg des geringsten Widerstands“.
In seiner Rede vor den Europaabgeordneten in Straßburg am 17. September erklärte Draghi: „Europa steht vor der Wahl zwischen Lähmung, Ausstieg und Integration. [...] Die Integration ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt.“ Wie Benjamin Fox im EUObserver berichtet, reagierte Draghi damit auf Kritik an seinen Vorschlägen, insbesondere an einer Erhöhung der europäischen Wirtschaftsinvestitionen um 800 Milliarden Euro pro Jahr, die möglicherweise auf gemeinsamen EU-Schulden beruhen könnte. Wie Fox betont, war es die Reaktion der EU auf die Covid-19-Pandemie, die das Tabu um gemeinsame Schulden brach: „Die Idee einer gemeinsamen Verschuldung, wie z.B. Eurobonds, war für viele Jahre ein Tabu unter den EU-Politikern, aber dieses Tabu wurde 2021 gebrochen, als die Regierungen sich damit einverstanden erklärten, dass die EU-Kommission 800 Milliarden Euro zur Finanzierung des NextGeneration EU-Programms aufnimmt, um die Mitgliedstaaten bei der Erholung von der Covid-19-Pandemie zu unterstützen. Als Sicherheit diente der EU-Haushalt. Die von Draghi vorgeschlagenen gemeinsamen Schuldeninstrumente wären dem Wiederaufbaufonds nachempfunden.“
Wie Thomas Moller-Nielsen für Euractiv berichtet, besteht Draghi jedoch darauf, dass eine gemeinsame Verschuldung kein „wesentlicher Bestandteil“ seiner Lösung sei und „nur unter bestimmten politischen und institutionellen Bedingungen eingesetzt werden könne“.
Die Äußerungen, die Draghi am 30. September auf einer Veranstaltung des EU-Thinktanks Bruegel machte, wurden als Versuch gewertet, die „fiskalisch aggressiveren“ Mitgliedstaaten wie die Niederlande und Deutschland zu besänftigen, die von Draghis Vorschlägen wenig begeistert waren. Dennoch betonte Draghi, dass „in diesem neuen geopolitischen Kontext die einzelnen Länder einfach zu klein sind, um zurechtzukommen“.
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