Eine demokratische Revolte gegen eine taube und abgeschottete Elite

Das Abstimmungsergebnis im Referendum am 23. Juni war im Wesentlichen ein „Tritt nach den Bonzen“, die die britische Wirtschaft in Geiselhaft genommen haben, und ein Schlag gegen das Versagen der größten politischen Parteien beim Umgang mit der Einwanderungsfrage, so der Kolumnist David Randall.

Veröffentlicht am 12 Juli 2016 um 16:04

Wenn man verstehen will, warum Großbritannien für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt hat, ist es gar nicht schlecht, die Zeit vor rund 8500 Jahren zu betrachten. Damals schmolzen die Polkappen, der Meeresspiegel stieg und das tiefliegende Land, das England mit dem Kontinent verband, versank im Meer. So begann die distanzierte Beziehung der Briten zu Europa und die Entwicklung der skeptischen, zeitweise feindlichen psychologischen Faktoren, die damit einhergehen. Geschichtlich gesehen ist also nicht das Ergebnis des Referendums der vergangenen Woche die Abweichung von Großbritanniens Umgang mit dem Kontinent, sondern eher die 44 Jahre halbherziger Mitgliedschaft in der Europäischen Union, die dadurch beendet werden.

Diese Einstellung mag wie typisch britische Unnahbarkeit erscheinen, aber die Absonderung und ein gewisser Abstand (verstärkt durch einschüchternde Gräben in Gestalt der Nordsee und des Ärmelkanals) sind für die englische Geschichte von zentraler Bedeutung. Sie – und nicht militärische Stärke – sind auch der Hauptgrund, warum seit 950 Jahren niemand bei uns einmarschiert ist. Diese Haltung, die sich hinter den Deichen, Küstenbefestigungen und hoch aufragenden Kreidefelsen entwickelt hat, ist oft seltsam, manchmal dickköpfig und ein wenig zynisch – und verfügt über einen Sinn für Ironie, der allumfassende Ideologien oder grandiose politische Projekte nur schwer ernst nehmen kann.

Deshalb redeten selbst die glühendsten EU-Enthusiasten während der Kampagne nur darüber, was das Verlassen der EU für den Lebensstandard, Arbeitsplätze, Renten und Immobilienpreise bedeuten könnte und versuchten nicht ein einziges Mal, sich zum Klang von Beethovens Neunter auf das Ideal eines voll integrierten Staates Europa zu berufen.

Außerhalb einiger weniger Zirkel in den Großstädten (die BBC, die Zeitung „The Guardian“ usw.) kommt der feuchte Traum dieser Europafreunde nicht gut an. Die Diskrepanz zwischen dieser viel gepriesenen Vision (von der viele Briten vermuten, dass die EU-Beamten sie unaufhaltsam anstreben) und dem reinen Handelsabkommen, das Großbritannien ursprünglich 1972 unterzeichnete, trieb viele an, die für „Leave“ stimmten. Viele wollten, dass Großbritannien wieder die Kontrolle übernimmt und, wenn man so will, die politische Nordsee wiederherstellt, die uns einst von Eurokraten und ihrem Tun trennte.

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Nichts von alledem wäre jedoch ohne zwei entscheidende Faktoren zum Tragen gekommen: Die Tatsache, dass Gordon Brown Großbritannien aus der Eurozone herausgehalten hatte (bei einer gemeinsamen Währung wäre ein Referendum unmöglich gewesen), und die internen Machenschaften in David Camerons konservativer Partei. Bei den Torys gab – gibt – es viele Euroskeptiker, und vor rund einem Jahr stand die Partei in den Meinungsumfragen unter großem Druck von der europafeindlichen UK Independence Party.

Um diese beiden besorgniserregenden Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, versprach Cameron ein Referendum und machte sich prahlend, mit Pauken und Trompeten auf, einen besseren EU-Deal für Großbritannien auszuhandeln. Was er bekam, war erbärmlich und mager. Er kehrte aus Brüssel zurück wie einer, der zum Wocheneinkauf für die Familie aufbricht und dann mit einer Tüte Chips zurückkommt. Sein Anspruch, er habe triumphiert, wurde mit hohlem Gelächter begrüßt. Die Wähler mögen es nicht, für dumm verkauft zu werden. Und sie schätzten gar nicht als er, falls sie mit „Leave“ stimmten, Katastrophen bis hin zu einer erhöhten Kriegsgefahr heraufbeschwor.

Banken und große Unternehmen unterstützten ihn und warnten vor wirtschaftlicher Pestilenz und biblischen Armutskatastrophen. Das war keine gute Taktik. Seit der Finanzkrise, die 2008 begann, konnten die meisten Leute hier (und anderswo, wie ich vermute) es kaum erwarten, Banker, Finanzexperten und Großunternehmen (stark überbezahlt, geschützt vor den Folgen ihrer eigenen Inkompetenz und Begünstigte der Niedriglohnwirtschaft, die von der Migration profitiert) irgendwie bestraft zu sehen. Normale Wahlen werden zwischen zwei Parteien ausgefochten, die nicht geneigt sind, derart vulgäre Dinge zu tun, und verweigerten Menschen daher diese Möglichkeit. Aber hier, beim Referendum, bestand die Chance, den Bonzen einen Tritt zu verpassen. Und sie wurde genutzt.

Großbritanniens EU-Mitgliedschaft hätte all dies eventuell gerade so überlebt, aber nicht die Einwanderungsfrage. Das Land hat eine lange Tradition darin, Millionen von Bürgern aus dem Commonwealth willkommen zu heißen und aufzunehmen, ebenso Opfer religiöser und politischer Verfolgung.

Aber in den letzten Jahrzehnten kamen zu viele Menschen (offiziell waren es seit 1997 fünf Millionen, dass es mehr waren, kann als sicher angenommen werden). Sie kamen in zu kurzer Zeit, um einfach assimiliert oder von den Dienstleistungen der öffentlichen Hand bequem bewältigt zu werden. Bedenken über diese Entwicklung und ihre Auswirkungen auf den Zugang zum Gesundheitswesen, Wohnungen und Schulen wurden von den meisten Medien nicht nur ignoriert, sondern oft als eine Art Rassismus abgetan. Da die beiden wichtigsten politischen Parteien bis vor kurzem eher abgeneigt waren, das Problem anzugehen, geschweige denn etwas daran zu ändern, gab es für diejenigen, die mit diesen grundlegenden Veränderungen sehr unzufrieden waren, keine Möglichkeit, dies bei einer Wahl kundzutun.

Dieser Damm ist beim Referendum gebrochen. Aus der Sicht von Millionen bestand, ob zurecht oder nicht, ein fester Zusammenhang zwischen der EU und der unkontrollierten Einwanderung, für die es angesichts der Expansionspläne in Brüssel eventuell kein sichtbares Ende gegeben hätte. Endlich bestand für sie eine Möglichkeit, ihre Gefühle an der Wahlurne auszudrücken. Dass in Gebieten mit der höchsten Einwanderung drei von vier Stimmen für „Leave“ abgegeben wurden, ist auffällig.

Ganz gleich ob man es feiert oder beweint: dies war eine demokratische Revolte von 17 Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse und der Mittelschicht gegen eine nicht repräsentative und abgeschottete Elite, die ihre Sorgen zu lange als undifferenzierte Ignoranz abgetan und darauf bestanden hatte, dass nur sie allein es besser wisse.

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