Eine eigenständige Supermacht

Der Figaro beginnt seine Sommerserie "Die Welt in 20 Jahren" mit einer europäischen Episode: Die Taufe des Flaggschiffs der europäischen Kriegsmarine im Jahr 2031 gibt den Startschuss für die lang erwartete gemeinsame EU-Verteidigung, das letzte Element des acht Jahre zuvor eingeleiteten „Großen Auffahrens“, mit dem die EU endlich auf internationaler Ebene den ihr gebührenden Platz einnimmt.

Veröffentlicht am 22 August 2011 um 16:13

Unter den neidischen Augen der französischen, britischen und polnischen Admiräle hielt der Stapellauf der FGS Konrad-Adenauer alle Versprechungen. Mit Champagner geweiht glitten die 55.000 Tonnen Profillegierung um Punkt 10 Uhr plätschernd auf die Wilhelmshavener Reede. Unter einem garstigen Sprühregen salutierte das Sirenenkonzert auch eine andere Taufe: die der EU-Marine, 15 Jahre nach dem „Großen Auffahren“.

„Wer hätte gedacht, dass Europa in seinen Verteidigungsbelangen so schnell und so weit fortschreiten würde? Wahrscheinlich musste erst eine weitere Generation ganz unten auftreffen, damit wir endlich aus der Talsohle herauskommen konnten. Danach war es relativ leicht, wieder in Schwung zu kommen, doch da erzähle ich Ihnen nichts Neues...“

Der gerade erst wiedergewählte europäische Spitzenmann, Martin Grand, hält mit seiner Freude nicht hinter dem Berg. Sein durch die Wahlurnen weiter zusammengeschweißtes Team reiste vollzählig an die Nordsee. Selbst seine italienische Gegnerin, die als Oppositionsleiterin nach Straßburg geschickt wurde, bekam schließlich den berühmten herzlichen Rippenknuff des Präsidenten ab.

Die Konrad Adenauer, Prunkstück der Übergeschwindigkeit, wird 2034 auslaufen, mit all ihren Supereinheiten, ihren integrierten Waffenträgern und ihrer Palette vielseitig einsetzbarer Drohnen. Das Flaggschiff der EU-Sturmgruppe steht auch für Deutschlands Rückkehr auf die Militärebene, nach einer langer Abwesenheit. Sein Einsatz bleibt dabei noch ungewiss.

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Doch mit dem Verkümmern der NATO, der hoffnungslosen Instabilität der muslimischen Welt und den aufkommenden Gefahren im russisch-chinesischen Grenzbereich blieb der Bundesrepublik keine andere Wahl mehr. Nachdem ihr die Strategien ausgegangen waren, schloss sie sich letztendlich der Verteidigungsachse an.

Das Dreiecksverhältnis stellt seine Flitterwochen zur Schau

Am großen Jadehafen konnte man dem Bundeskanzler, dem britischen Premierminister und dem französischen Präsidenten zuhören, wie sie nach Martin Grand noch zulegten über das „endlich geteilte Schicksal“ und „die Gemeinschaft der Staatshoheiten“. Ein halbes Jahrhundert an Eifersuchtsszenen versinkt in der Vergessenheit. Berlin, London und Paris stehen nun auf gleichem Niveau in dem, was sich mit jedem neuen Tag als eine Föderation durchsetzt. Das Dreiecksverhältnis stellt seine Flitterwochen zur Schau, während Russland an die Tür klopft.

Zum 75. Jubiläum des Vertrags von Rom rückte die EU die Dinge wieder zurecht: Vergessen sind die Kleinkrämerfehden über die Landwirtschaft, die Identitätsfragen, die immerwährende Debatte über die Neubearbeitung der Verträge. Der Alte Kontinent hat, durch den Euro-Schlamassel eines Besseren belehrt, mit seiner Nabelschau aufgehört.

Die Horizonte haben sich erweitert, das Sichtfeld ist breiter. Weniger Institutionen, mehr Macht. Eine einzige Finanzverwaltung, um die EU-Währung gegenüber Dollar und Yuan zu halten. Gemeinsame, glaubwürdige Prioritäten in der Außenpolitik. Und schließlich die gemeinsame Verteidigung als Reaktion auf die Herausforderungen der Zeit.

Das, was zunächst am Gewagtesten schien – ein europäischer Präsident –, war eine fast natürliche Etappe. Die Ämter der beiden Vorsitzenden in Brüssel, also von Kommission und Rat, mussten einfach nur zusammengelegt werden. Das wurde von den alten Verträgen übrigens nicht verboten. Angela Merkel, von den 28 im Jahr 2013 einvernehmlich erwählt, gewann drei Jahre später sogar die Kontinentalwahlen. Der Euro war gerettet, Europa hatte ein Gesicht. Nach einer halben Ewigkeit kündigte sich nun endlich das Große Auffahren an.

Der zweite Auslöser war der Zusammenbruch des britischen Pfunds, das, von Defiziten zermürbt, zur fossilen Währung wurde. London sollte schließlich ein 50 Jahre altes Versprechen honorieren. Seit dem Übertritt Großbritanniens überleben heute im Schatten nur noch der Schweizer Franken und die unerschütterliche tschechische Krone. Die Verbindung der Royal Navy mit der französischen Armee war dann nur noch eine Formalität. Nelson drehte sich vergeblich im Grab um.

Deutschland reiht sich ein

Im Nachhinein gesehen bestand die heikelste Aufgabe darin, Deutschland in das kollektive Spiel mit einzubeziehen. Um das Gleichgewicht der Mächte in Europa ein für allemal festzunageln – wie der Rheinländer Adenauer gesagt hätte. Die Eurokrise und das tugendhafte Beispiel, das die deutsche Wirtschaft in den Jahren nach 2010 gab, hatten ihre Narben hinterlassen.

Italien, Spanien, das ehemalige Belgien, Irland, Portugal und Griechenland erinnern sich noch an die Sparmaßnahmen, die ihnen Berlin mit Unterstützung durch Paris und den Europäischen Währungsfonds aufzwang. Der Euro, gespalten zwischen den Orthodoxen im Norden und den Schuldnern im Süden, schien ein paar Monate lang sogar erledigt zu sein.

Die Augenwischerei verblasste jedoch schnell in einem Europa, dessen Schicksal sich im Kanzleramt entscheiden sollte. Deutschland als erdrückende Macht? Die dank ihrer Exporte schneller der Krise entkommene Bundesrepublik hatte mehr als die anderen unter der neuen Aufteilung der Welt und dem offenen Handelskriegs mit den China dominierten Staaten, der "Sinosphäre", zu leiden.

Deutschland wird auch schneller alt. Wenige Kinder, viele Rentner, eine anämische Nachfrage – die Tendenz ist deutlich und die Demografen hatten letztendlich recht. Der japanische Fluch lauert. Bis 2040 wird das Land in der Größe mit Frankreich und Großbritannien vergleichbar sein. Es sieht schon seine europäische Vormachtstellung entschwinden, die zwei Generationen vorher aus dem Mauerfall und der Wiedervereinigung entstanden war.

Die Rückkehr in Reih und Glied gilt auch für die Außenpolitik. Von der libyschen Revolte über die koreanische Wiedervereinigung bis zur Pakistankrise hat Berlin lange geglaubt, es liege in seinem Interesse, niemals Partei zu ergreifen. Und letztendlich hat Deutschland niemanden verärgert – doch auch nichts gewonnen. Durch seinen Mangel an Format hat es seinen Eintritt in den Sicherheitsrat der UNO vermasselt.

Die "Sinosphäre" spinnt ihr Netz

Für die gesamte EU war der echte Katalysator die doppelte Ausschaltung der USA und Europas durch China als führende Wirtschaftsmacht. Zwar hatte sich die Geschäftswelt auf die Gegenbewegung hin zum Reich der Mitte vorbereitet, doch die Regierenden und ihre Strategen hatten nicht alle Implikationen erfasst. Die amerikanische Supermacht war schließlich etwas Wohlwollendes und Vertrautes gewesen. Die neue Dominanz ist und bleibt anders, fremd in ihrer Art, ihrer Kultur und ihren Idealen.

Die Europäer lernen weiterhin Englisch statt Chinesisch. Sie verschließen ihre Ohren vor dem Cantopop und achten nicht auf die Filmplakate der Red Lantern Studios. Im Rennen um die Welt der Fantasie ist ihnen Hollywood noch lieber. Die „Sinosphäre“ hat Südasien und den Fernen Osten verschlungen, inklusive Japan und Taiwan.

Sie spinnt ihr Netz in Afrika und im Herzen Lateinamerikas. Europa und Amerika suchen ihr Ersatzmodell. Weder das eine noch das andere will seine Seele verlieren. Jeder Kontinent findet jenseits des Atlantiks eine beruhigende Nähe. Doch die Dynamik des Fortschritts und des Reichtums hat ganz klar das Lager gewechselt. Die Dominosteine fallen einer nach dem anderen um, bewegt von Trillionen Yuan.

Der Ruin erst der amerikanischen und dann der europäischen Automobilindustrie, der Aufstieg von Technologien und Luxus made in China, die Übernahme von Shell, Apple und sogar Club Med durch Titanen mit Verbindungen zu Peking läuteten in Europa Sturm. Ganz wie die Pachtverträge und die fresssüchtigen Energieabkommen, die von der Hypermacht mit den Autokraten der Südländer abgeschlossen wurden. Vor die Wahl gestellt, hat Russland sein Erdöl und sein Erdgas lieber gegen das Versprechen eines beschleunigten Beitritts zum europäischen Wirtschaftsraum eingehandelt.

Europa macht seine Fortschritte nur in der Krise. Die Neoprotektionisten, die seit zehn Jahren die politische Szene beherrschen, setzen auf eine bipolare Welt. Ein echtes Rezept gegen den Niedergang, sagen sie. Martin Grand, der Mann der „Entglobalisierung“, hat darin sein Sprungbrett gefunden. Einerseits ein euro-amerikanischer Markt mit drei Milliarden Konsumenten, inklusive Brasilien, Indien und Türkei. Andererseits der Rest der Welt. Zwischen den beiden ein bewaffneter Frieden und doppelt festgenagelte Handelsbarrieren, während darauf gewartet wird, dass China endlich seinen Appetit mäßigt.

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