Ercolano, Dezember 2010. Eine Demonstration gegen die Camorra, organisiert von Radio Siani.

Eine Stadt lehnt sich gegen die Camorra auf

Ercolano im Süden Italiens ist die erste Stadt, die keine Schutzgebühren mehr an die Mafia bezahlt. Eine Freiheit, die von Händlern und dem Bürgermeister der Stadt entschieden verteidigt wird

Veröffentlicht am 29 Dezember 2011 um 11:00
Ercolano, Dezember 2010. Eine Demonstration gegen die Camorra, organisiert von Radio Siani.

Der Bäcker, der Mechaniker, der Tankstellenbesitzer, der Fischer, die Inhaberin des Bekleidungsladens, die Friseurin, der Barbier, der Schmuckhändler, der Optiker, der Barbesitzer.... Selbst der Pfarrer der Kirche des Heiligen Rosenkranzes war nicht davon ausgenommen.

Über Jahre und drei Generationen hindurch haben die Bewohner von Ercolano, einem Ort mit 55.000 Einwohnern 14 km von Neapel entfernt nur eins gemacht: die Zähne zusammengebissen und ohne Murren, die Schutzgelder von 150 bis 1500 Euro bezahlt, die von den Mitgliedern der Camorra jeden Monat von Händlern, Unternehmern, ja sogar von Priestern eingetrieben wurden, dafür, dass ihnen das Leben nicht schwergemacht würde. Aber das ist nun Geschichte. Ercolano, ein Ort auf halbem Wege zwischen dem Meer und dem Vesuv, bekannt für seine archäologischen Funde aus römischer Zeit, hat „Basta“ gesagt, es reicht. Sie ist die erste Stadt im Süden Italiens, die es wagt, den Mafiosi das Handwerk zu legen und sich weigert, weiter Schutzgeld zu bezahlen.

„Ercolano Schutzgeld-freies Gebiet“, so wird es bald herausfordernd auf dem Ortseingangsschild stehen. „Wir werden nicht mehr missbraucht“ heisst es stolz auf den Schildern, die nun viele Geschäftsauslagen schmücken. Alles ist eine Provokation, wenn man bedenkt, dass laut den Statistiken der Organisation SOS Impresi [Initiative der Händler gegen Schutzgelderpressung], das Eintreiben des „pizzo“, der Schutzgeldzahlungen, wie die von der Mafia unter Ausübung von Druck und Drohungen eingetriebene Steuer heisst, spült jedes Jahr einige 10.000 Millionen Euros in die Kassen der organisierten Kriminalität in Italien und betrifft ungefähr 160.000 Unternehmen.

Morde waren an der Tagesordnung

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„Jetzt sind wir in Ercolano frei“ sagt uns Giuseppe Scognamiglio, Koordinator von Radio Siani, einem Anti-Mafia Radiosenders, der sich für die 2009 aufkommende Legalisierungskampagne eingesetzt hat und heute ihren Sitz in einem Gebäude, das ehemals dem Kapo der lokalen Camorra. „Aber noch vor einigen Jahren war das Leben hier ganz anders: jeder bezahlte an die Mafiosi, Morde waren an der Tagesordnung, die Mitglieder der organisierten Kriminalität liefen bewaffnet durch die Straßen, sie fuhren gepanzerte Autos und waren mit Gewehren ausgestattet und die Menschen litten im wahrsten Sinne des Wortes unter Todesangst.“

Der Aufstand von Ercolano gegen die Mafia begann im Jahr 2004, als ein Unternehmer oder vielmehr eine Unternehmerin es zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt wagte, einen Mafioso, der sie in ihrem Laden um das Schutzgeld erpresst hatte, bei der lokalen Polizei anzuzeigen. Diese mutige Frau war blond und schick und heisst Raffaela Ottaviano.

„Ich hatte Angst, große Angst"

„Ich weiss nicht warum, aber ich musste vorher noch nie Schutzgeld bezahlen. Als dieser Mann meinen Laden betrat und mir mit bedrohlichem Ton befahl zu bezahlen, hatte ich Angst, große Angst“ gesteht sie der Zeitung EL Mundo. „Aber ich dachte, es sei besser, den Laden zu schliessen, als die ganze Zeit mit dieser Angst im Bauch leben zu müssen. Deshalb sagte ich dem Mafioso nein, ich würde nicht bezahlen und ging schnurstracks aufs Polizeirevier, um ihn anzuzeigen“, berichtet sie. „Es ist besser, einmal zu sterben als jeden Tag.“

Dieses heldenhafte Verhalten Raffaela Ottavianos war bemerkenswert. Vor allem weil einige andere Ladenbesitzer, die es gewagt hatten, sich der Mafia zu widersetzen, teuer für ihr Verhalten bezahlen mussten: zum Beispiel Sofia Ciriello, Besitzerin einer Brotfabrik im Zentrum von Ercolano, die von den Mafiosi mit einer Pistole bedroht wurde, um ihr klarzumachen, es bei besser, wenn sie bezahle und bei der sogar eine Bombe in der Fabrik gezündet wurde.

Demonstrationen gegen die Mafiosi

Die große Revolution aber fand 2005 statt, als ein Herr namens Nino Daniele zum Bürgermeister von Ercolano gewählt wurde, einer statt die bis dahin in einem blutigen Bandenkrieg versumpfte zwischen zwei Mafiaclans, der fast jede Woche einen Toten forderte und wo die Ladenbesitzer keine Luft mehr zum Atem hatten wegen des Pizzo. „Ich kann zwar keine Zahlen nennen, aber viele Geschäfte sahen sich gezwungen zu schliessen, weil sie das Geld dafür nicht mehr aufbringen konnten. Der gesamte Einzelhandel steckte in einer Krise, Ercolano erlebte ein menschliches und wirtschaftliche Drama. Es musste etwas getan werden“, erinnert sich der ehemalige Bürgermeister.

Daniele krempelte die Ärmel hoch und in den vier Jahren als Bürgermeister, arbeitete er hart daran, dass die Bürger von Ercolano wieder Vertrauen in die Institutionen und den Staat bekamen. Er wagte es nicht nur, den Mafiosi in zahlreichen Demonstrationen die Stirn zu bieten: er begann sogar, sie polizeilich zu bekämpfen, und das mit voller Härte.

Es gibt keine Morde mehr und auch keine Waffen

Er überprüfte alle Verträge der Stadt mit dubiosen Firmen, die mit der Camorra zusammen arbeiteten und kämpfte gegen die Immobilienspekulationen, die so typisch sind für das organisierte Verbrechen, traute sich sogar als ziviler Kläger in vielen Prozessen gegen die Camorristas aufzutreten.

Außerdem leitete er Maßnahmen ein, um die Einzelhändler dazu zu animieren, sich gegen den Pizzo aufzulehnen, indem er zum Beispiel ein Gesetz verabschiedete, die ihnen dafür drei Jahre lang alle kommunalen Steuern erlässt, wenn sie die Schutzgelderpressungen der Mafiosi anzeigen. Und als ob das noch nicht ausreichen würde, hat er auch den Verein gegen die Schutzgelderpressung der Mafia in Ercolane ins Leben gerufen, dessen Vorsitzende Raffaela Ottaviano ist.

Das Ergebnis lässt sich sehen: das polizeiliche und gerichtliche Vorgehen hat dazu geführt, dass heute um die 250 Mafiosi von Ercolane im Gefängnis sitzen. Es gibt keine Morde mehr und auch keine Waffen. Insgesamt 23 Einzelhändler der Stadt, die erpresst wurden, haben sich getraut, 41 Mitglieder der organisierten Kriminalität anzuzeigen und in den nun gegen sie laufenden Prozessen auszusagen. Der Pizzo ist heute Vergangenheit.

Aus dem Spanischen von Ramona Binder

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