England – wie die Kaimaninseln im Regen

Indem er einer tieferen europäischen Integration den Rücken kehrt, um die Privilegien der Londoner City nicht zu gefährden, verdammt David Cameron den Inselstaat zu einem unbedeutenden Dasein am Rande Europas.

Veröffentlicht am 12 Dezember 2011 um 15:08

Großbritannien tritt nicht aus der Europäischen Union aus. Noch nicht. Allerdings dürfte die EU bereits alle britischen Hoffnungen begraben haben. Und auch wenn sich die Nebelschwaden der Brüsseler Schlacht vom 8. und 9. Dezember 2011 noch nicht ganz gelichtet haben, wurden sowohl in Brüssel als auch in London ein psychologischer und ein politischer Rubikon überschritten.

Der Premier hatte nicht nur schlechte Karten, sondern spielte sie auch noch schlecht aus. Innerhalb der EU hat er Großbritannien weit an den Rand gedrängt und stark isoliert: Etwas, was selbst [Margaret] Thatcher trotz ihrer ”Money-Back”-Parole geschickt vermieden hatte. Damit hat er die wie Haie kreisenden, euroskeptischen Hinterbänkler und ihre Kollegen in den Medien Blut lecken und ihren baldigen Angriff vorbereiten lassen.

Für unsere besorgten europäischen Partner, die gegen den Zusammenbruch des Euro ankämpfen, wird Großbritannien in den bevorstehenden monatelangen zähen Verhandlungen als Buhmann herhalten müssen. In einer so akuten Situation ist ein möglicher Austritt Großbritanniens aus der EU sowohl faktisch als auch praktisch nicht mehr völlig undenkbar.

Cameron will auf zwei Hochzeiten tanzen

In der Vergangenheit stritten sich die Europäische Union und das Vereinigte Königreich zwar um wichtige, grundsätzlich aber zweitrangige Themen wie die Agrarpolitik, Haushaltsbeiträge oder ”Rinderwahnsinns”-Fleischexporte. In der wichtigsten Angelegenheit von allen – ob der Euro und die EU überleben werden – hat es Cameron aber tatsächlich zustande gebracht, Großbritannien gegen den Rest zu stellen.

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Durch die europäischen Medien geht der Premier als eine Art böse Fee, weil er der Einladung zum neuen Vertrags-Ball der 27 Euro-Länder nicht gefolgt ist. Das war sein gutes Recht. Um sich bei den Euroskeptikern in seiner Partei aber beliebt zu machen, verbot er auch allen anderen, diesen Ball abzuhalten. Es sei denn, sie machen den Briten oder vielmehr der Londoner City ein Geschenk zur ”Nicht-Hochzeit”.

Damit wollte er Großbritannien sozusagen zu Kaimaninseln innerhalb der EU machen. Dann könnten [die Briten] für ihre Finanzdienstleistungen von den Vorteilen des europäischen Binnenmarkts profitieren, sich gleichzeitig aber der Aufsicht und Kontrolle der EU entziehen. Das aber konnten alle anderen Staats- und Regierungschefs nicht einfach hinnehmen. Und Cameron wusste, dass sie es nie akzeptieren würden.

Stattdessen entwickelten die meisten anderen tatendurstig Pläne für einen neuen, lockereren zwischenstaatlichen Vertrag zur Haushaltsdisziplin und einer Fast-Fiskalunion für die 17 Länder der Eurozone.

In Sicherheit vor Merkels Bündnis-Eifer

Solange die Krise wütet, werden die 23 – oder vielleicht sogar mehr – Länder, die zu der neuen Maschinerie gehören, jeden Monat Treffen und Gipfel abhalten. In einigen Fällen werden sie in der Lage sein, sich auf eine gemeinsame, die wirtschaftlichen Interessen Großbritanniens beeinträchtigende Position zu verständigen, die sie allen anderen EU-Staaten anschließend per Mehrheitsbeschluss aufzwingen.

Selbst wenn Cameron nicht den Dickkopf für die Daheimgebliebenen gespielt hätte, wäre das Ergebnis ziemlich sicher das gleiche gewesen: Ein lockerer “Vertrag der 17 oder mehr” [Staaten]. Mit seinen überzogenen Forderungen für die City (und die euroskeptischen Konservativen) hat der Premier es bestimmten Ländern, darunter Frankreich, ermöglicht, die Fallgruben eines neuen EU-Vertrags zu vermeiden und sich vor dem wiederentdeckten Bündnis-Eifer von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Sicherheit zu bringen.

Gleichwohl besteht eine psychologische Kluft zwischen einer gemeinsam getroffenen EU-Entscheidung für diesen “zweitbesten” zwischenstaatlichen Vertrag und einer von Großbritannien erzwungenen Entscheidung, für die man [die Briten] verantwortlich machen könnte. Wir müssen uns auf geheime und hässliche Kämpfe um die Umsetzung und Regulierung des neuen europäischen Steuerpakts (“fiscal compact”) gefasst machen.

Cameron könnte zum bequemen Sündenbock werden

Wird David Cameron auch weiterhin den Kaimaninsel-Status für die City fordern, damit Großbritannien den EU-Institutionen grünes Licht für die Erstellung neuer zwischenstaatlicher Regeln für Euroland gibt? Weigert er sich, könnte nicht nur der “fiscal compact” scheitern, sondern auch der Euro sowie die Wirtschaftssysteme der Union und Großbritanniens zusammenbrechen.

Gibt er nach, wird die euroskeptische Lobby (der übergeordnete europäische und britische Interessen ziemlich egal sind) versuchen, ihn zugrunde zu richten. Bleibt abzuwarten, ob der “fiscal compact” (auf den man sich bis März einigen will) die Märkte beeindruckt und die weltweiten Anleger überzeugt, wieder Schuldenpapiere aus den Euro-Ländern zu kaufen.

Der Euro könnte immer noch zusammenbrechen und die ganze EU zu Fall bringen. Den Märkten wäre vielleicht ein “strengerer” Vertrag der 27 [EU-Länder] plausibler erschienen (oder auch nicht). Sollten sich die Investoren zieren, wird Cameron für Frankreich, Deutschland und andere zu einem bequemen Sündenbock.

Europa: Die Briten gegen den Rest

Im wahren Interesse Großbritanniens wäre gelegen, auch weiterhin eine zentrale Rolle in der EU zu spielen und dafür geachtet zu werden. In einer immer bedrohlicheren Welt geht es um gemeinsame politische und wirtschaftliche europäische Werte. Ein Vertrag der 27 [EU-Staaten] hätte den Nicht-Euro-Ländern wie Großbritannien keine neue Haushaltsdisziplin aufgezwungen, sondern der Regierung eine einflussreiche Position innerhalb der Union verschafft, von der aus sie die zukünftige EU-Politik – und damit auch die Finanzregulierung – hätte mitgestalten können.

Was uns nun bleibt, ist nicht einmal mehr ein Europa der zwei Geschwindigkeiten oder ein Zwei-Klassen-Europa, sondern ein Europa der Briten gegen den Rest.

Zweifellos werden sich die nun isolierten Briten erhobenen Hauptes mit ihrer neuen Einsamkeit abfinden. Wie die Kaimaninseln, nur mit schlechterem Wetter.

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