Erdrutschsieg für Wladimir Putin, imperiales Russland und Widerstand der Opposition

Wladimir Putin wurde mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Er geht intern gestärkt aus der Präsidentschaftswahl hervor, die von maximaler Unterdrückung der Opposition und massiver Propaganda geprägt war. Der Machtzuwachs des russischen Staatschefs und die Drohungen, die er ausspricht, beunruhigen die europäische Presse.

Veröffentlicht am 21 März 2024 um 09:39

87,85 %: Es ist ein regelrechter „Erdrutschsieg“, den Wladimir Putin am Tag nach der Präsidentschaftswahl in Russland für sich beanspruchte, „trotz der Proteste in der ganzen Welt“, berichtet die russische Exilzeitung Nowaja Gaseta Europa. Als Kandidat für seine eigene Wiederwahl, ohne glaubwürdigen Gegenkandidaten – sein Hauptgegner Alexej Nawalny ist wenige Wochen zuvor verstorben – wird Putin also eine fünfte sechsjährige Amtszeit anhängen, gestärkt durch ein noch höheres offizielles Ergebnis als das vorherige von 2018. Wenn er seine Amtszeit 2030 vollendet, „wird Putin den sowjetischen Diktator Josef Stalin in Bezug auf die Langlebigkeit an der Spitze des Kremls übertreffen“, fährt Nowaja Gaseta Europa fort. Laut der Menschenrechtsorganisation OVD-Info wurden an den drei Wahltagen 87 Personen in etwa 22 Städten in ganz Russland festgenommen.

Für Putin sind Russ*innen und Ukrainer*innen Teil derselben Nation, erklärt die ukrainische Historikerin und Aktivistin Hanna Perekhoda dans Posle („Nach“ auf Russisch), ein unabhängiges Medium, das nach der Invasion der Ukraine gegründet wurde. Sie entschlüsselt das Narrativ , das den öffentlichen Reden des russischen Staatschefs zugrunde liegt. Für ihn ist „die unterschiedliche nationale Identität der Ukrainer*innen ein künstliches Konstrukt, das von den westlichen Feinden (Polen, Österreich, Deutschland) und ihren Agent*innen (Bolschewiki) geschaffen wurde. Ohne den Schutz Russlands erliegen die Ukrainer*innen unweigerlich den feindlichen Kräften des Westens, die ‚Pseudo-Werte in ihre Köpfe einpflanzen‘, sie ihre russische Natur vergessen lassen und sie als ‚Rammbock‘ gegen Russland einsetzen“. Daraus folgt: „Wenn die Ukraine unabhängig ist, kann Russland keine Großmacht werden, und daher ist seine Souveränität bedroht, denn nach dieser Weltsicht genießen nur Großmächte echte politische Souveränität.“ Putin müsse daher die Kontrolle über die Ukraine übernehmen und „die Ukrainer*innen in Russ*innen verwandeln“.


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Tausende von Menschen beteiligten sich an der Aktion „Mittag gegen Putin“, bei der die Menschen in Russland und im Ausland aufgefordert wurden, gegen Mittag aus Protest in die Wahllokale zu kommen und ihre Stimme abzugeben, wie Denis Leven in Politico berichtet. Es ist allerdings schwierig, das genaue Ausmaß der Mobilisierung zu beurteilen. Eines steht für die unabhängige russische Journalistin Ada Blakewell jedoch fest: Die Regimekritik gedeiht trotz aller Widerstände im Land, schreibt sie in einem Artikel der Nowaja Gaseta, den wir auf Voxeurop veröffentlicht haben und den ich Sie einlade, zu lesen.

In The Guardian erinnert der britische Historiker und Journalist Timothy Garton Ash, ein bedeutender Beobachter von Mittel- und Osteuropa, daran, dass „die letzten Wochen uns gezeigt haben, dass es immer noch ein anderes Russland gibt, so wie es auch auf dem Höhepunkt der Macht Adolf Hitlers während des Dritten Reiches ein anderes Deutschland gab“. Die tatsächliche Unterstützung, die die Opposition im Land genießt, kann Garton Ash zwar nicht bewerten, aber er erinnert daran, dass „seit dem Einmarsch in die Ukraine schätzungsweise 20.000 Oppositionelle verhaftet wurden“. Nach Ansicht des britischen Historikers stehen wir am Anfang einer neuen Ära der europäischen Geschichte. „Was wir in diesem Jahr tun, wird Folgen für die kommenden Jahrzehnte haben. Der Ukraine zu ermöglichen, diesen Krieg zu gewinnen, ist nicht nur der einzige Weg, um der Ukraine selbst eine demokratische und friedliche Zukunft zu sichern“, erklärt er. „Es ist auch das Beste, was wir tun können, um die langfristigen Chancen für ein besseres Russland zu verbessern.“

Es ist fraglich, ob die gewöhnlichen Russ*innen den Krieg in der Ukraine noch unterstützen. „Meinungen in einer Situation von Krieg und großer Unterdrückung zu bewerten, ist sehr kompliziert. Umfragen zur öffentlichen Meinung erzeugen ein Gefühl der Gefahr für die befragte Person“, fasst Anna Colin Lebedev, Dozentin für Politikwissenschaften an der Universität Paris-Nanterre, in einem Interview mit der monatlich erscheinenden französischen Wirtschaftszeitschrift Alternatives Economiques zusammen. „Viele Russ*innen sind nicht der Ansicht, eine informierte Meinung zum Krieg zu haben. Aber der Enthusiasmus ist sehr begrenzt: Der Anteil der Bevölkerung, der den Krieg aktiv unterstützt und sich eine Ausweitung des Krieges wünscht, war nie größer als 20 Prozent und sinkt stetig. Dagegen sind die Kriegsmüdigkeit und der Wunsch, zu einem normalen Leben zurückzukehren, sehr groß“.

Für Sergueï Medvedev, Historiker und Spezialist für die postsowjetische Gesellschaft, ist Wladimir Putin „unbestreitbar der Erbe des stalinistischen Faschismus“, wie er in einem Interview in der französischen Tageszeitung Le Monde erläutert. „Damit ein substanzieller Wandel eintritt, müssen drei Bedingungen erfüllt sein, wirft er ein: „Putin muss sterben oder abtreten, die Armee muss in der Ukraine eine Niederlage erleiden und die Einnahmen aus dem Außenhandel müssen wegfallen. Und das ist bei weitem nicht der Fall.“


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