Eine Partie Schach zwischen Anders Fogh Rasmussen (NATO-Chef) und Baschar al-Assad (Präsident Syriens), mit Gaddafi (libyscher Revolutionsführer) in der Mitte.

Europa hilflos in Libyen und Syrien

Mit ihrer Beteiligung am Libyen-Einsatz entdecken die Europäer, dass sie nicht über die Mittel für ihre Ambitionen verfügen. Und ohne militärische Mittel steht die Union in einer für sie strategisch wichtigen Region ohne eine glaubwürdige Diplomatie da. Deshalb müssen die EU-Länder in der Verteidigung zusammenarbeiten.

Veröffentlicht am 15 Juni 2011 um 14:53
Glez  | Eine Partie Schach zwischen Anders Fogh Rasmussen (NATO-Chef) und Baschar al-Assad (Präsident Syriens), mit Gaddafi (libyscher Revolutionsführer) in der Mitte.

Ein Amerikaner sprach Tacheles. Wenn die meisten europäischen Länder nicht an den Luftwaffeneinsätzen zur Unterstützung der libyschen Rebellion, die sie im Prinzip befürworten, teilnähmen, dann deshalb, weil ihre Verteidigungshaushalte schlicht zu gering seien, um sich solch einen Einsatz leisten zu können, erklärte jüngst der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates.

Der Pentagon-Chef sagte die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Viele europäische Länder verfügen kaum über Streitkräfte. Seit Beginn des Kalten Krieges verließen sie sich auf den Schutzschirm der Amerikaner und nach dessen Ende kürzten sie ihre Militärausgaben noch mehr. Selbst die europäischen Militärmächte Frankreich und Großbritannien verfügen über eine extrem begrenzte Schlagkraft. Beide Länder sind zwar in der Lage, den Libyen-Einsatz zu verkraften, doch sind sie auch an anderen Fronten präsent, vor allem in Afghanistan. Sie brauchen dort ihre Munitionsreserven auf und merken schmerzhaft, dass es ihnen an Soldaten und Material fehlt. Und mit den klammen Haushalten kann sich die Lage nur verschlimmern.

Ohne militärische Mittel kein politisches Gewicht

Gut so, umso besser, werden jene sagen, die meinen, ihre Länder hätten in Kabul, Misrata und Abidjan eh nichts zu suchen. Doch abgesehen von der Debatte, ob die Einsätze gerechtfertigt sind oder nicht, steht fest, dass ohne militärische Mittel man dazu verdammt ist, auch politisch nicht zu existieren. Um auf internationalem Parkett mitreden zu können, muss man sich die Möglichkeit wahren, agieren oder reagieren zu können. Und das stimmt insbesondere für die Europäische Union am Anfang dieses neuen Jahrhunderts. Und zwar aus zwei Gründen.

Der erste ist, dass die Europäer, die in ihrer militärischen Abhängigkeit von Amerika die beste Grundlage für eine Kohäsion des Westens sahen, ihre Position ändern mussten, und zwar, als die Amerikaner sich nicht bereit erklärten, auch nur einen Finger zu rühren, um Georgien beim Konflikt mit Russland beizustehen. Im August 2008 entdeckten selbst die pro-amerikanischsten unter den Europäern urplötzlich, dass den USA die Stabilisierung ihrer Beziehungen zu Moskau wichtiger sein kann, als die Unterstützung eines ihrer treuesten Verbündeten, dass ihre ureigensten Interessen Vorrang vor der unerschütterlich geglaubten Solidarität haben.

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USA wollen nicht mehr Europas Verteidigung finanzieren

Selbst Polen hat sich der Idee einer gemeinsamen EU-Außen und Verteidigungspolitik angeschlossen, und dieser Sinneswandel war umso willkommener, als dass er kurz darauf zum Börsencrash an der Wallstreet kommen sollte. Die USA waren bereits entschlossen, sich nicht mehr auf zweitrangige Konflikte auf Kosten ihrer globalen Interessen einzulassen. Um seine Wirtschaft zu retten, musste das Land dermaßen viel öffentliche Gelder hineinpumpen, dass seither selbst das Pentagon seinen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leisten muss.

Die USA sind nicht mehr bereit, Europas Verteidigung zu finanzieren, und nichts lässt vermuten, dass sich das eines Tages wieder ändern wird. Die Botschaft, die in Robert Gates’ Bemerkung lag, ist ganz explizit. Und spiegelt sich in der Art wider, wie die Amerikaner die Europäer in Libyen ganz bewusst die vorderste Front überlassen.

Mit dem Großteil dieses Einsatzes auf ihren Schultern lastend, stellen die Europäer nun gezwungenermaßen fest, dass ihre Militärausgaben aufgestockt werden müssen. Und dies umso mehr, als dass der arabische Frühling, von Rabat bis Sanaa, eine lange Periode der Instabilität eröffnet.

Für Verteidigung bei der Gesundheit kürzen?

Niemand weiß, wohin der blutige Wahnsinn des syrischen Regimes führen mag. Sicher ist, dass es in der gesamten Region zu einer Kettenreaktion kommen wird. Ebenso wie der Sturz Gaddafis, sobald er denn Wirklichkeit werden sollte, die Region Nordafrika dramatisch verändern wird. All dies geschieht nur einen Katzensprung von Europa entfernt, und weder kann es der Kontinent sich leisten, dies zu ignorieren, noch wird dies für ihn ohne Konsequenzen bleiben. Und damit wären wir beim zweiten Grund, warum die Europäer nicht darum herumkommen werden, über die Finnzierung ihrer Verteidigung nachzudenken.

In Zeiten von Haushaltskürzungen, welche die meisten Unionsländer bis ins Mark und die Griechen bis ins Unerträgliche treffen, wo überall die politischen Spannungen steigen, ist es schlicht unvorstellbar, dass man bei Bildung, Wohnungspolitik oder Gesundheit kürzt, um Armeen zu finanzieren. Nur über eine bessere Zusammenarbeit können die Europäer ihre militärischen Anstrengungen erhöhen. Ressourcen und Programme müssen gebündelt werden.

Genau damit haben Großbritannien du Frankreich begonnen. Trotz seiner pro-amerikanischen Haltung hat Großbritannien diese Notwendigkeit begriffen, und nicht nur im Bereich Verteidigung. In allen Bereichen muss die Europäische Union ihre Kräfte und Politik bündeln. Das ist die Lehre, die man aus der Bemerkung von Robert Gates ziehen muss.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

Standpunkt

Besser Hände weg von Syrien

„Eingreifen oder nicht?“ fragt sich Guardian-Kolumnist Chris Doyle:

1.400 Syrier sind dem Assad-Regime zum Opfer gefallen, zehntausende wurden verhaftet, Kampfhubschrauber und Panzer wurden gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt, Kinder wurden misshandelt und getötet. Viele fragen sich, warum man ein Einschreiten in Libyen für notwendig erachtete, aber nicht in Syrien. Verglichen mit al-Gaddafi hat sich das syrische Regime nicht wirklich besser verhalten und doch weiß der Westen nicht, was er tun soll, wie er es tun soll und mit wem. Und vor allem wurde er zum Einschreiten nicht ausdrücklich aufgefordert. Ein berühmtes syrisches Sprichwort besagt: ‚Eigener Ziwan (Roggen) ist besser als fremder Weizen‘. Mit anderen Worten: Syrier erleiden lieber das schlimmste Herrschaftssystem als das Beste zu akzeptieren, das ihnen Ausländer anbieten würden.

Für Doyle haben Syrier nur wenig Sinn für ausländische Eingriffe, weil sie sich „gut mit der [regionalen] Geschichte von Fremdherrschaft und ausländischen Einmischungen auskennen“. Darüber hinaus „haben die NATO-Eingriffe in Libyen sie eher unbeeindruckt gelassen“.

Dass nur wenige Gegner des Regimes von der UNO fordern, zu handeln, schränkt auch das internationale Interesse ein:

Ein hochrangiger britischer Beamter bestätigte, dass es für Syrien wenige Optionen gibt. Bei Russland, China, Brasilien und anderen trifft jegliches Handeln – selbst begrenzte Sanktionen der UNO – auf erbitterten Widerstand. UN-Sanktionen hätten nur beschränkte Auswirkungen. Die USA und die EU haben bereits Sanktionen verhangen: Was die UNO also noch tun kann ist unklar. Wie sich im Irak zeigte, treffen weitreichende Sanktionen die Menschen weitaus mehr als das Regime.

Jedoch hat der Westen sich das selbst zuzuschreiben. Jahrzehntelang wurde eine widersprüchliche Politik betrieben. Zudem versäumte man es, sämtlichen Aktionen sowohl ein rechtliches als auch einen ethisches Fundament zu geben: Nicht nur im Irak, sondern auch in Palästina, und wenn man sich bei den diktatorischsten aller Regimes einzuschmeicheln versuchte. Das hat nicht nur zu einem Vertrauensverlust geführt, sondern den Westen auch die Dilemmata beschert, mit denen er jetzt konfrontiert ist.

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