Europas Dilemma mit der Einwanderung

Migration ist das zentrale Thema bei europäischen Wahlen geworden und verändert die politische Landschaft – wie die Bundestagswahlen in Deutschland eindrucksvoll gezeigt haben. Doch demografische Krisen machen Einwanderung zunehmend unersetzlich - ein ironischer Widerspruch.

Veröffentlicht am 13 März 2025

Ein Blick auf die Ergebnisse der Bundestagswahl vom 23. Februar macht deutlich, dass das Wahlverhalten fast exakt die ehemalige Ost-West-Teilung widerspiegelt, die Deutschland bis zur Wiedervereinigung von 1990 prägte. Während Westdeutschland in den traditionellen Farben Schwarz und Dunkelblau der konservativen CDU/CSU von Friedrich Merz erscheint, dominieren in den Bundesländern der ehemaligen DDR die hellblauen Töne der rechtsextremen AfD unter Alice Weidel.

„Warum wählen Ost und West so unterschiedlich?“, fragt sich Mona Trebing auf der Nachrichtenseite des ZDF. Anhand der Analysen des Politikwissenschaftlers Oliver Lembcke von der Ruhr-Universität Bochum verweist sie auf die geringere Parteibindung und eine weniger ausgeprägte Zivilgesellschaft im Osten als entscheidende Faktoren, die ihn anfälliger für populistische Bewegungen machen. Trebing hebt zudem die hohe Wahlbeteiligung in den östlichen Bundesländern hervor – 77,7 % in Sachsen-Anhalt und 81,5 % in Brandenburg –, die maßgeblich zum Erfolg der AfD beitrug, da die Partei besonders viele Erstwählende für sich gewinnen konnte.

Wo Einwanderung am nötigsten ist, wird sie am meisten abgelehnt

Markus Wehner von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meint, dass der Erfolg der AfD auf mehreren Faktoren beruht: ihre Fähigkeit, frühere Nichtwähler zu mobilisieren, ihre gefestigte Stammwählerschaft und ihre zunehmende Normalisierung in der öffentlichen Debatte. Dadurch würden Wähler*innen weniger zögern, ihre Unterstützung für die Rechtsextremen offen zu zeigen. Wehner betont, dass die Einwanderungspolitik ein zentrales Thema im Wahlkampf war – insbesondere als ein Faktor, der das Vertrauen in die etablierten Parteien erschütterte. Für Wähler*innen, die mit der Migrationspolitik der Regierung unzufrieden waren, sei die AfD eine klare Protestwahl gewesen.

Amanda Taub von der New York Times erkennt in der Bundestagswahl ein Muster, das sich in vielen entwickelten Ländern mit ähnlichen Herausforderungen zeigt. Nach der Wiedervereinigung 1990 erlebte Ostdeutschland eine massive Abwanderung junger und gut ausgebildeter Menschen – insbesondere Frauen –, die im Westen bessere Chancen suchten. Dies, so Taub, habe einen Teufelskreis in Gang gesetzt: Die betroffenen Regionen blieben mit einer überwiegend älteren Bevölkerung zurück, die anfälliger für rechtsextreme Ideologien sei. Der wirtschaftliche Niedergang und der Rückzug traditioneller Parteien aus diesen Regionen verstärkten das Gefühl, abgehängt zu werden, wodurch die AfD mit ihrer anti-migrationspolitischen Rhetorik zunehmend an Zuspruch gewann. Das Paradoxe daran: Genau diese Regionen brauchen Einwanderung am dringendsten, um ihre Infrastruktur und die Versorgung einer alternden Bevölkerung zu sichern.

Die Zahlen sprechen für sich

Mit einer Geburtenrate von nur noch 1,35 Kindern pro Frau im Jahr 2023, die von der Financial Times als „extrem niedrig“ eingestuft wird, steht Deutschland vor einer unangenehmen Wahrheit: es ist dringend auf Einwanderung angewiesen. Doch während Wirtschaftsexpert*innen wie Marcel Fratzscher und Sabine Zinn in der Zeit argumentieren, dass das Land jährlich 400.000 Zugewanderte benötigt, um ökonomisch stabil zu bleiben, bewegen sich die führenden Politiker*innen in die entgegengesetzte Richtung. CDU-Chef Friedrich Merz verspricht, die Einbürgerungsvoraussetzungen zu verschärfen, während AfD-Parteichefin Alice Weidel für eine „Remigration“ plädiert – also auch für die Rückkehr von Menschen mit Migrationshintergrund in ihre Herkunftsländer.

Deutschland hat derzeit 1,7 Millionen offene Stellen, und in den nächsten zehn Jahren werden fünf Millionen Arbeitnehmende in Rente gehen. Bereits in den vergangenen fünf Jahren machten ausländische Arbeitskräfte 80 % des Beschäftigungswachstums aus. Doch bürokratische Hürden behindern eine weitere Zuwanderung. Fratzscher und Zinn schlagen vor, bis 2029 rund 1,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer*innen zu integrieren, die Anerkennung von Qualifikationen zu erleichtern und Integrationsprogramme auszubauen. Andernfalls, so warnen sie, drohe Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftlichen Wohlstand zu verlieren.

In Spanien hingegen hat die Masseneinwanderung zu einer wirtschaftlichen Wiederbelebung geführt, berichten Antonio Maqueda und Yolanda Clemente in El País. Innerhalb der letzten sechs Jahre sind fast eine Million Spanier*innen im erwerbsfähigen Alter aus dem Arbeitsmarkt ausgeschieden, während mehr als zwei Millionen Eingewanderte deren Plätze eingenommen haben. 2024 entfielen 88 % der neu geschaffenen Arbeitsplätze auf Migranten und Migrantinnen, die schätzungsweise 60 Milliarden Euro zur Wirtschaft beitrugen. Der Anteil ausländischer Einwohner*innen stieg von 14,6 % auf 20,9 % innerhalb von acht Jahren. Vor allem spanischsprachige Lateinamerikaner*innen hätten sich als tragende Säulen zentraler Wirtschaftssektoren etabliert.

Nicht alle begrüßen diesen migrationsbedingten Aufschwung. Junge Spanier*innen, insbesondere Anhänger*innen der rechtspopulistischen Partei Vox, betrachten die Entwicklung mit Skepsis, schreibt Estefanía Molina in El País. Ihre Ablehnung sei nicht nur fremdenfeindlich motiviert, sondern gründe sich auf die Sorge, dass Migranten und Migrantinnen bereit seien, für niedrigere Löhne zu arbeiten – was ihre ohnehin unsicheren Jobperspektiven weiter verschlechtere. Viele junge Menschen empfinden die Einwanderung als eine kurzfristige Lösung zur Stabilisierung des Rentensystems, von der hauptsächlich die ältere Generation profitiere – auf Kosten der jüngeren.

Ein Geburtendefizit fast wie im Ersten Weltkrieg

Sinkende Geburtenraten und die wachsende Abhängigkeit von Einwanderung sind längst kein rein westeuropäisches Phänomen mehr. Länder in Mittel- und Osteuropa, die einst hauptsächlich Auswanderungsländer waren, werden zunehmend zu Zielländern. In Tschechien sind die Geburtenzahlen auf ein historisches Tief gefallen: Mit nur 85.000 Geburten im Jahr 2024 liegt die Zahl ein Viertel unter der von 2021, berichtet Jan Beránek in der Wirtschaftszeitung Hospodářské noviny.

Gleichzeitig wird das Land mit seinen zehn Millionen Einwohner*innen immer attraktiver für Zuwanderung. Mehr als eine Million Ausländer*innen leben mittlerweile dort, schreibt Přemysl Spěvák in Deník. Die größte Gruppe bilden Ukrainer*innen mit fast 580.000 Personen, gefolgt von Slowaken und Slowakinnen sowie Vietnamesen und Vietnamesinnen. Tschechien verzeichnet den höchsten Anteil ukrainischer Geflüchteter innerhalb der EU – 35 pro 1.000 Einwohner*innen. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2024 stieg die Bevölkerung durch Migration um 15.000 Menschen. Dies spiegelt einen breiteren Trend in Europa wider, wo mittlerweile 27 Millionen Ausländer*innen leben – das entspricht sechs Prozent der EU-Bevölkerung.


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Fico übersteht Regierungskrise in der Slowakei

Hospodárske noviny | 19. Februar | SK

Trotz massiver Proteste und einer bröckelnden Parlamentsmehrheit konnte sich Robert Fico, der clevere Anführer der Smer-Partei, an der Macht halten. „Fico hat die Krise durch reine Machtpolitik gelöst“, analysiert die Politikwissenschaftlerin Darina Malová in Hospodářské noviny. Durch eine Kabinettsumbildung sicherte sich Smer in der Slowakei die Kontrolle über zwei zusätzliche Ministerien – auf Kosten der gemäßigteren Koalitionspartner Hlas und SNS. Dieser Schachzug scheint darauf abzuzielen, abtrünnige Abgeordnete aus den Juniorparteien wieder auf Linie zu bringen.

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ECF, Display Europe, European Union

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