Europas Implosion im Kleinformat

Je eifriger Madrid spart, desto lauter werden in Barcelona die Rufe nach Unabhängigkeit. Katalonien ringt mit der Zentralregierung um Wirtschafts- und Steuerfragen und droht, Spaniens demokratisches Gleichgewicht zu stören.

Veröffentlicht am 2 Oktober 2012 um 14:47

Zum fünften Mal in ihrer Geschichte strebt Katalonien die Unabhängigkeit an. Der Wunsch Kataloniens, sich von Madrid zu emanzipieren, hat zwei Gründe, einen fundamentalen und einen konjunkturellen.

Der spanische Staat ist eine politische Schöpfung, die sich auf viele Abkommen stützt. Ziel dieser Übereinkünfte war es, den Fortbestand der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Vorherrschaft über eine Vielzahl von Nationen mit einer eigenen Identität und einer eigenen Geschichte zu garantieren. Die Schwächen dieser künstlichen Konstruktion wurden in der Verfassung von 1978 mit einer konstitutionellen Transaktion zwischen Nationalismus und Zentralismus ausgemerzt. Die Zauberformel hieß autonome Regionen.

Zur Modernisierung erhielten sie großzügige Zuschüsse. Solange es genügend Geld gab, mit dem die Eliten in den Regionen ihre Vormachtstellung vor Ort untermauern konnten, funktionierte die Abmachung. Emblematisch brachten dies der damalige Ministerpräsident José Maria Aznar und der Regierungschef Kataloniens Jordi Pujol zum Ausdruck, als Aznar eines Tages in Madrid verkündete, „Spanien geht es gut“ und Pujol in Barcelona hinzufügte „und Katalonien geht es besser“.

Monument mangelnden politischen Menschenverstands

Nun zum konjunkturellen Grund der Unabhängigkeitsbestrebungen. Die schwelende Unzufriedenheit vor dem Hintergrund der 822.000 Arbeitslosen und der nun schon 22 Monate andauernden Sparpolitik der Regierung der CiU [Convergència i Unió] entwickelte sich durch den Entschluss der Zentralregierung, die autonomen Regionen nicht mehr so großzügig zu finanzieren, zu einem lodernden Feuer.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Ermöglicht wurde diese Wende durch eine Änderung der spanischen Verfassung, die auf Befehl von Berlin und Brüssel von den üblichen hilfreichen Akteuren vor Ort mit Überschallgeschwindigkeit durchgepeitscht wurde. Gemeint sind die konservative Partido Popular und die sozialistische PSOE, diejenigen also, die in dem Augenblick, in dem sich die Frage stellt, ob die Katalanen in einem Referendum über ihr Recht auf Selbstbestimmung entscheiden dürfen, auf die Unantastbarkeit der Verfassung pochen. Im Mittelpunkt der Verfassungsänderung steht der neue Fiskalpakt zwischen Madrid und den autonomen Regionen, der sich so stark auf Sparmaßnahmen konzentriert, dass er ein wahres Monument für mangelnden politischen Menschenverstand darstellt.

So zu tun, als ob die abrupte Kürzung der öffentlichen Finanzierung keine Auswirkungen auf die Beziehung zwischen dem Zentralstaat und der autonomen Regionen hätte, ist politisch völlig unverantwortlich. In Spanien, Portugal und Griechenland haben der Berliner Pyromane und seine Agenten vor Ort alle sozialen Gleichgewichte in Brand gesetzt. Dabei ist es ihnen egal, ob sie damit unerwünschte Geister befreien. Alles muss der Göttin Sparsamkeit geopfert werden.

Fehlendes Geschichtsbewusstsein

Diese politische Unverantwortlichkeit weiß die katalanische Regierung gut zu nutzen. Als Fahnenträger der Separatisten ähnelt der konservative Artur Mas [dem portugiesischen Politiker und Präsidenten der Regierung der autonomen Region Madeira] Alberto João Jardim: Angesichts der gesellschaftlich und wirtschaftlich katastrophalen Ergebnissen seiner Regierungszeit, in der öffentliche Dienste und soziale Rechte systematisch abgebaut wurden, beschuldigte Artur Mas die Zentralregierung in Madrid (obwohl es nicht sicher ist, ob er [den Ministerpräsidenten] Mariano Rajoy „Kubaner“ oder [den Wirtschaftsminister] Luis de Guindos „Kolonialist“ schimpfte) den Katalanen Geld aus der Tasche zu ziehen und es dann nicht wieder in öffentliche Dienste und Projekte in dieser Region zu investieren.

Wo haben wir das bloß schon einmal gesehen? Die von der katalonischen Regierung geschwungene Fahne der Unabhängigkeit dient einfach nur dazu, vom selbstverschuldeten sozialen und wirtschaftlichen Zusammenbruch abzulenken.

Spanien spiegelt heute eher als Portugal oder Griechenland die europäische Implosion in verkleinertem Maßstab wider. Die von der Troika geforderten sozialen, politischen und territorialen Maßnahmen haben weitgreifende Auswirkungen. Vielleicht hätten wir etwas aus der Katastrophe des Balkans lernen sollen. Aber Geschichtsbewusstsein ist wohl etwas, das man von der Troika und ihren Helfern nicht erwarten kann.

Aus Katalonien

„Der katalanische Zug ist nicht mehr zu stoppen“

In Katalonien wird die mögliche Abspaltung der Region von Spanien nicht unbedingt als eine Katastrophe gesehen, wie der Journalist Fernando Ónega im Leitartikel der Tageszeitung La Vanguardia aus Barcelona betont:

Wenn ein Parlament rebelliert und eine Wahl für einen nationalen Übergang fordert, die Zentralregierung dies aber verhindern will, dann legt man den Grundstein für einen Konflikt. Ich füge hinzu: Wenn die Zeitungen Kataloniens vom demokratischen Recht sprechen, die aus Madrid aber über die „wahnwitzige Haltung von Kataloniens Gouverneur Artur Mas“ schwadronieren, dann beschränkt sich der Konflikt nicht mehr allein auf die Politik, sondern ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Die Frage ist daher, den Übergang so zu gestalten, dass es zu keiner frontalen Kollision zweier Züge kommt. [...] Vor genau diesem Horizont will Artur Mas Wahlen durchführen, obwohl Ministerpräsident Mariano Rajoy das verhindern will. In genau diesem Moment wird die Ausübung der Demokratie zur Herausforderung. Und zum Kraftakt. Dass man sich in Madrid nicht täuscht: Eine Kehrtwende ist unmöglich, oder zumindest äußerst schwierig. [...] Ich weiß nicht, ob es zu spät ist. Der katalanische Zug ist zu rasant, um noch gestoppt zu werden.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema