Europas Null-Doktrin

In entscheidenden Momenten der Geschichte entwickeln Großmächte eine klare diplomatische Doktrin, mit der sie ihre Interessen durchsetzen. Die arabischen Revolutionen sind so ein Moment, und Europa täte gut daran, sich ein paar Gedanken dazu zu machen, schreibt José Ignacio Torreblanca.

Veröffentlicht am 25 Februar 2011 um 16:35

Während die Völker an der Mittelmeerküste darum kämpfen, ihre Würde zurückzubekommen, verlieren wir die unsrige in großem Maßstab. In der Außenpolitik versteht man unter einer Doktrin den Versuch, eine Reihe von Vorkommnissen, die ähnliche Herausforderungen in sich bergen, unter dem gleichen Prinzip zusammenzufassen.

Im Jahre 1947 kündigte der damalige US-Präsident Harry Truman an, seine Regierung verspreche freien Völkern beizustehen, die sich der angestrebten Unterwerfung durch bewaffnete Minderheiten oder durch äußeren Druck widersetzen. Im Jahr 1968 erlaubte die Breschnew-Doktrin der Sowjetunion das militärische Eingreifen mit dem Ziel, die sozialistische Ordnung in den Ländern Mittel- und Osteuropas wiederherzustellen. Und 1989 folgte schließlich der Todesstoß des Kalten Krieges, als Gorbatschow auf die Frage nach der Gültigkeit der Breschnew-Doktrin angesichts der Reformen in Ungarn und Polen überraschend antwortete, dass künftig die Sinatra-Doktrin gelte, eine Anspielung auf das Lied des Sängers, „I did it my way“. Die Folge war eine Demokratisierung der gesamten Region im Domino-Effekt.

Protestieren ohne zu stören, mitmachen ohne zu bezahlen

Heute geht die Europäische Union auf Zehnspitzen über die Revolutionen in den arabischen Ländern hinweg, statt mit einer eigenen Doktrin darauf zu reagieren. Diese Doktrin lässt sowohl einen Namen als auch Inhalte vermissen. Die Namenlosigkeit rührt indes von einem eklatanten Mangel an Führung auf allen Ebenen her: in den jeweiligen Hauptstädten und auch in Brüssel, wo Lady Ashton ebenso wenig ein Risiko eingehen möchte. Dabei wäre diese Krise für Ashton die Möglichkeit gewesen, sich selbst neu zu erfinden. Stattdessen hat es die Baroness in vorauseilendem Gehorsam vorgezogen, als reines Sprachrohr der 27 zu agieren und nur das zu vertreten, was die Mitglieder einstimmig beschließen können. Deshalb wird es nun keine Ashton-Doktrin geben.

Aber es fehlt auch an Inhalten für eine solche Doktrin, denn unsere führenden Politiker wollen alles erreichen und nichts einfordern: protestieren ohne zu stören, beeinflussen ohne zu bestimmen, verurteilen ohne zu sanktionieren, helfen ohne etwas zu riskieren, mitmachen ohne dafür zu bezahlen. Und als Weiterführung der bisherigen Heuchelei macht man sich noch nicht einmal die Mühe, zu verdecken, dass ihre wirklichen Beweggründe eben die Flüchtlingsströme und die Energiepreise sind. Ähnlich wie das Wunder der zucker- und koffeinfreien Coca-Cola hat nun Europa die Null-Doktrin erfunden: den Wandel unterstützen ohne dafür eine Gegenleistung einzufordern.

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Geächtete Regimes müssen sanktioniert werden

Auf der Suche nach einer geeigneten Doktrin könnte man beispielsweise die Grundsätze nehmen, die der bizarre Gaddafi-Sohn Saif el Islam in seiner Doktorarbeit vertritt, die er 2007 an der London School of Economics unter dem unglaublichen Titel „Die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Demokratisierung der Institutionen einer internationalen Regierungsführung“ eingereicht hat. In dieser Arbeit geht Saif auf die Unterscheidung des Rechtstheoretikers John Rawls ein, die einerseits von „gut geordneten“ Gesellschaften ausgeht, die – wenn auch nicht ganz demokratisch – so doch friedlich sind, und ihre Führung eine gewisse Legitimität den Bürgern gegenüber besitzt und die Menschenrechte achtet.

Andererseits gibt es „geächtete“ Regimes oder „ungerechte“ Gesellschaften, die die Menschenrechte systematisch missachten und denen in der Folge Sanktionen und Druck auferlegt werden müssten, indem man diesen Staaten die militärische oder anderweitige Hilfe verweigert und die wirtschaftlichen Beziehungen abbricht.

Sofort strenge Strafen

Abschließend schreibt Saif el Islam auf Seite 236 seiner Arbeit (wobei er auf den radikalen Islamismus anspielt): „Diese Doktorarbeit bejaht die Argumentation von Rawls dahingehend, dass man die geächteten Staaten nicht frei nach Gutdünken gewähren lassen sollte“. Und auf Seite 237 geht es weiter: „Die Isolation und eventuelle Transformation der geächteten Staaten ist von vitaler Bedeutung für die globale Stabilität.“

Lassen sie uns nun die Rawlschen Grundsätze anwenden (die von den VN unter dem Konzept der „Verantwortung zum Schutz“ aufgegriffen wurden) und eine klare Trennung vornehmen zwischen denen, die gegenwärtig Gewalt gegen die Gesellschaften anwenden, und jenen, die mit der Opposition sprechen. Es scheint als hätte die Gemeinschaft der 27 noch keine Kenntnis davon genommen, aber Libyen hat gerade einen Quantensprung gemacht, auf den der UN-Sicherheitsrat reagieren muss und zwar mit strengen Sanktionen, Flugsanktionen, der sofortige Eröffnung eines Verfahrens vor dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Einfrieren aller Auslandskonten der Familie Gaddafi. Libyen ist ein geächteter Staat, also müssen wir ihn auch als solchen behandeln.

Aus dem Spanischen von Ramona Binder

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