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Der Traum der Tschechen von Europa ist 20 Jahre nach dem EU-Beitritt ausgeträumt

Im Jahr 1985 hatte der antikommunistische Dissident Jiří Dienstbier die Vision eines vereinten Europas. Im Jahr 2004 trat Tschechien hochmotiviert der EU bei. Jetzt herrscht Ernüchterung: Der zunehmende Nationalismus überschattet die europäischen Ideale und lässt eine Zukunft mit autoritärer Herrschaft ahnen.

Veröffentlicht am 10 April 2024 um 23:01
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Vor langer Zeit, im düsteren Jahr 1985, als Konstantin Tschernenko nur dreizehn Monate nach Juri Andropow starb und ein gewisser Michail Gorbatschow Oberhaupt der UdSSR wurde – damals noch ein Land, das ewig dauern sollte – schrieb Jiří Dienstbier, einer der inspirierendsten Dissidenten der Charta 77, in der phänomenal grauen Tschechoslowakei von Gustáv Husák, einen charmanten, höchst utopischen Essay mit dem Titel Snění o Evropě/Träumen von Europa

Der Kern seiner Utopie war die Vision eines Kontinents ohne zwei Machtblöcke, ohne Warschauer Pakt und NATO, auf dem alle Bürger*innen in einem „gemeinsamen europäischen Haus“ friedlich leben würden: Tschechoslowak*innen, Balt*innen, Jugoslaw*innen Hand in Hand mit Deutschen (natürlich vereint!), Norweger*innen, Brit*innen … Ob man es glaubt oder nicht: er träumte damals sogar davon, dass die Russ*innen der großen europäischen Familie beitreten würden.

Wie durch ein Wunder wurde Jiří Dienstbier nach der Revolution von 1989, die wegen ihres friedlichen und zivilen Charakters als „samtene Revolution“ bezeichnet wurde, in weniger als fünf Jahren Außenminister der Tschechoslowakei.

Einer der häufigsten Slogans auf den selbstgebastelten Transparenten, die in jenen unschuldig-naiven Novembertagen die tschechoslowakischen Plätze schmückten, war ziemlich widersprüchlich, denn er lautete „Rückkehr nach Europa“ oder „Zurück nach Europa“, was in einem Land, das geografisch als mitteleuropäisch bezeichnet wird, keinen Sinn zu ergeben scheint.


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