Bitte zieht diese Shorts nicht aus. Litauens Auftritt beim Eurovision Song Contest 2010. Titel: "Eastern European Funk". Baerum, Norway.

Eurovision, besser als eine EU-Richtlinie

Der Eurovision Song Contest ist nicht nur ein Festival an Geschmacklosigkeit, Kitsch und Schmalz, findet die irische Autorin Martina Devlin. Er bietet auch die Gelegenheit, einen Blick auf die Länder zu werfen, mit denen wir heute verbandelt sind.

Veröffentlicht am 28 Mai 2010 um 14:54
Bitte zieht diese Shorts nicht aus. Litauens Auftritt beim Eurovision Song Contest 2010. Titel: "Eastern European Funk". Baerum, Norway.

Der Eurovision Song Contest ist mein kleines Geheimnis: Ich weiß, eigentlich dürfte ich ihn nicht mögen, aber ich kann einfach nicht anders. Es ist das TV-Pendant zum Fastfood-Heißhunger. Es ist von vorneherein klar, dass man sich danach unbefriedigt fühlt – politisch motivierte Punktevergaben verzerren das Ergebnis –, doch manchmal hat man einfach genau darauf Lust. Also ließ ich mich mit aufgeregter Vorfreude vor dem Halbfinale auf der Couch nieder, und auch für die Endausscheidung am Samstag sind Getränke und Snacks schon eingekauft. Diese Woche schwelge ich im Eurovisions-Overkill, trotz (oder vielleicht gerade wegen) des Übermaßes an schamlos engen weißen Jeans und Gitarrensolos. Hätte die Eurovision ein menschliches Gesicht, dann wäre sie Starsky. Oder vielleicht Hutch.

Manche meinen, der als kulturelles Tschernobyl verschrieene Eurovision Song Contest sei ein durchaus überzeugendes Argument gegen jede zusätzliche europäische Integration. Mich bringt diese Show garantiert immer zum Lachen. Und dazu hat man heutzutage nicht so oft die Gelegenheit. Manche Länder nehmen den Contest natürlich ernster als andere, aber im tiefsten Inneren will doch jeder den Preis davontragen. Und ohne nachbarliche Kooperation ist der Sieg nicht möglich.

Der Spagat im Hamsterrad

Es ist wahrscheinlich übertrieben, den Gesangswettbewerb als Schauplatz der Lösung von Konflikten zu bezeichnen, doch wenn die Staaten hier und dort ein paar Punkte hin- und herschieben, während sie sich sonst um territoriale Ansprüche streiten, dann ist das doch ein Wink in die richtige Richtung. Besser, die Dinge werden auf der Anzeigetafel ausgefochten als auf dem Schlachtfeld, selbst wenn nationalistische Rivalitäten in Feindseligkeiten ausarten können. Das passierte zum Beispiel letztes Jahr mit Armenien und Aserbaidschan, beim Streit über ein symbolisches Bauwerk, das nach aserbaidschanischem Protest aus dem armenischen Video genommen wurde. Armenien konterte, indem es das Bild zusammen mit den Resultaten seiner Jury ausstrahlte.

Und wer kann das Jahr vergessen, als Israel gewann, Jordanien sich jedoch weigerte, den Entscheid anzuerkennen und dafür den Zweitplatzierten, Belgien, als Sieger ankündigte? Viele dieser internen Machtkämpfe sind dem Rest Europas gar nicht bewusst, weil wir uns stattdessen auf den Kitsch und die Länge der Röcke konzentrieren. So lieferte uns Polens Beitrag dieses Jahr die obligate nackte Haut. Bis jetzt hatten wir noch keine Frauen, die in einem riesigen Hamsterrad einen Spagat hinlegten, das Highlight von 2009, aber es bleibt ja noch ein bisschen Zeit.

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Abgesehen vom Unterhaltungswert eines solchen Fundus an kitschigen, schnulzigen, abgeschmackten Darbietungen, fungiert die Show als riesiges, auf Europa gerichtetes Periskop und bietet Gelegenheit, die Länder, mit denen wir Verbindungen unterhalten, ein bisschen unter die Lupe zu nehmen. Es mag keine echte kulturelle Darstellung Europas sein, aber zumindest wird unserem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen bezüglich der vielen Staaten, die heute auf der stets wechselnden Karte des Kontinents auftauchen. Europa ist vielfältiger als das innere Bild, das wir von ihm haben.

Contest zeigt die haarigen Brüste unserer Alliierten

Insbesondere die Griechenlandkrise erinnert an die gegenseitige Abhängigkeit innerhalb Europas. Wenn sich ein Land der Eurozone Schwierigkeiten zuzieht, dann spüren wir anderen die Erschütterungen. So zeigt uns der Eurovision Song Contest das Gesicht – und manchmal die behaarte Brust – unserer Verbündeten. Griechenland hat sich übrigens die Mühe gemacht, einen netten Ohrwurm nach Oslo zu schicken, vielleicht als Wiedergutmachungsversuch für den ganzen verursachten Aufruhr.

Während jedes Land zwar eine eigene, individuelle Stimme besitzt, würde man das beim Anhören der Eurovision nicht unbedingt merken. Musikalisch verfließt ein Land oft mit dem anderen. Die Eurovision scheint der Gleichförmigkeit und einer standardisierten Auffassung des Pop zuträglich zu sein. Man nehme etwa Bosnien und Herzegowina oder Moldawien – in den vorgetragenen Rocknummern ist nicht viel von ihrem Kulturgut zu erkennen. Lästerer nennen den Wettbewerb eine ausdruckslos-langweilige Übung in Mittelmäßigkeit, doch wer seinen musikalischen Beitrag bewerten will, liegt völlig daneben. Trotz all seiner Fehler gelingt es dem Eurovision Song Contest, Europa effektiver zu vereinen als eine Lawine von EU-Richtlinien und Harmonisierungsstrategien. (p-lm)

Erfolgsrezept

Love, love, love…

Die BBC hat den sprachlichen Aufbau der Lieder, die den Eurovision Song Contest seit seiner Entstehung gewonnen haben, untersucht, und liefert ihre Schlussfolgerungen: "Der wesentliche gemeinsame Nenner sind Liebesworte wie zum Beispiel "love". Das Erfolgsrezept für den Gewinnersong wäre ein Titel wie etwa "Oh, Just Let Me Love You!"" Die ideale Kandidatin für die diesjährige Ausgabe wäre also die deutsche Sängerin Lena: In ihrem "Satellite" kommt das Wort "love" gleich 26 Mal vor!

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