Nachrichten Schutz personenbezogener Daten

Facebook-Manie versus Privatleben?

Der jüngste Skandal um die Internet-Spionage durch amerikanische Geheimdienste macht deutlich, wie dringend die Europäische Union eine Reform ihrer Vorschriften zum Schutz personenbezogener Daten einleiten muss. Ein Dossier, über das sich Verbraucherverbände, Lobbyvereine der Internetriesen streiten.

Veröffentlicht am 26 Juni 2013 um 15:22

Selten hat ein Gesetzesentwurf so viele leidenschaftliche Diskussionen entfesselt wie der EU-Richtlinienvorschlag zur Netz- und Informationssicherheit, mit dem Europa sich einen neuen Regelungsrahmen zum Schutz personenbezogener Daten geben will.

Auf der einen Seite kleben regierungsunabhängige Organisationen und Internetnutzer-Verbände splitternackte Menschen auf Postkarten, denen sie den Stempel „Nackte Bürger“ aufdrücken. Damit treten sie für den Schutz der Privatsphäre im Internet ein und rufen [die Bevölkerung] dazu auf, unsere EU-Abgeordneten damit zu überhäufen, damit sie so weit wie möglich auf Abstand zu den Lobbyisten gehen. Auf der anderen Seite quengeln die einflussreichen Internet-Giganten und fordern mehr „Flexibilität“ beim Sammeln und Verkaufen privater Daten von Millionen Internetnutzern. Und mittendrin versuchen Archivare und Genealogen, sich Gehör zu verschaffen. Sie befürchten nämlich, dass ein Recht auf Vergessen das kollektive Gedächtnis gefährden könnte.

Der Grund: Es steht sehr viel auf dem Spiel. Die geplante Reform soll die EU-Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr ersetzen, die – wie ihr Beiname 95/46/CE schon sagt – 1995 eingeführt wurde. Allerdings hat sich die digitale Landschaft seitdem erheblich verändert und heutzutage zahlreiche Kriterien obsolet gemacht, insbesondere die Bedingung, laut der die betreffende Person der Erhebung [und Verarbeitung] ihrer personenbezogenen Daten „ohne jeden Zweifel“ zustimmen muss. Was soll das schon bedeuten, „ohne jeden Zweifel“?

Viel Spielraum

Die Artikel-29-Datenschutzgruppe, die sich aus Vertretern aller nationalen Datenschutzbehörden zusammensetzt, hat sich 2011 mit genau dieser Frage beschäftigt. Ihre Schlussfolgerung: Der Ausdruck wird „oft falsch interpretiert oder ganz einfach ignoriert“, wodurch die Unternehmen ihrer Phantasie natürlich völlig freien Lauf lassen können. So kann es sich entweder um „eine geschriebene Unterschrift“, „eine mündliche Erklärung“ oder aber „ein Verhalten“ handeln, das nach vernünftigem Ermessen darauf schließen lasse, dass eine Zustimmung vorliegt.

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Die Artikel-29-Datenschutzgruppe führt das Beispiel eines Telefondienstes an, der seine Anrufer über das Wetter in ihrer Stadt informiert. Wenn ihnen bekannt ist, wie dieser Dienst funktioniert, und sie dennoch seine Nummer wählen, kann davon ausgegangen werden, dass sie damit einverstanden sind, dass das Unternehmen Informationen über ihren aktuellen Standort erhebt. Genau dieser Logik bedient sich auch Amazon, das seinen Internetnutzern „ähnliche Artikel“ anbietet, d. h. Produkte nahelegt, die jenen gleichen, die sie sich schon einmal auf der Internetseite angesehen haben. Wenn [die Benutzer] sich also auch weiterhin für den Anbieter Amazon.com entscheiden, so haben sie offensichtlich keinerlei Einwände gegen diese Funktionsweise, zumal sie die entsprechenden Anregungen erhalten und folglich auch verstanden haben, dass ihr Browser-Verlauf gespeichert wird. Aus der „Zustimmung“ der Internetbenutzer ist so nach und nach ein „Mangel begründeter Verweigerungen“ geworden.

Dementsprechend ist die ganze Reform der Richtlinie folgendem Gedanken untergeordnet: Die Bürger sollen ihre personenbezogenen Daten wieder effizient selbst kontrollieren können. Zunächst einmal, indem tatsächlich das in den vergangenen Jahren so oft und laut geforderte „Recht auf Vergessen“ eingeführt wird. Aber auch, und vor allem, indem man sich dafür einsetzt, dass das Wort „ausdrücklich“ wieder neben die „Zustimmung“ gesetzt wird. Es ist ein ganz kleines Wort. Aber es hat viele Feinde. Nachdem es ursprünglich eingeführt werden sollte, wurde es 1995 dann doch gestrichen. Und ist nun wieder in aller Munde, weil es die Art und Weise genauer beschreibt, mit der „die betroffene Person sich mittels einer Erklärung oder einer eindeutigen Handlung damit einverstanden erklärt, dass ihre personenbezogenen Daten verarbeitet werden“.

Pop-up-Fenster, überall

In der Praxis könnte das so aussehen, dass sich kleine Informationsfenster öffnen. Genau so wie diese Pop-up-Fenster, die sich bereits in den Internetbrowsern Firefox oder Chrome öffnen, wenn man eine Internetseite besucht, die unsere Geolokalisierung benötigt. Dann könnte jeder selbst entscheiden, ob er der Internetseite erlaubt, diese Information nur für diesen Besuch der Seite, alle zukünftigen Konsultationen oder... niemals-nicht-im-Leben zu speichern. So könnte sich auf der YouTube-Seite beispielsweise ein Pop-up-Fenster öffnen, in dem um die Erlaubnis gebeten wird, in unserem bisherigen Browser-Verlauf herumzustöbern, um uns Videos von niedlichen Kätzchen zu empfehlen. Facebook würde uns dann darauf hinweisen, dass die Handy-Nummer, die wir dem [Netzwerk] gerade anvertraut haben, um unser „Konto sicherer zu machen“, auch an andere Anbieter, wie beispielsweise Farmville, weitergeleitet werden kann. Und auf „Pause“ gesetzte Werbebanner würden dann auf unsere Genehmigung warten, um uns [Artikel anzubieten], die unserer Altersgruppe, unserem Geschlecht, unserem Wohnort und unserer Lieblings-Bademode-Marke entsprechen.

Entsetzlich! Zahllose Pop-Up-Fenster würden [die Bildschirme] „überschwemmen“ und die Internetbenutzer letztendlich nur verwirren. Das zumindest behaupten Facebook, Amazon, Microsoft, Google und ebay, die alle befürchten, dass diese systematische ausdrückliche Zustimmung, die [obendrein auch noch] „übertrieben regelgerecht“ und „steif“ ist, ihre „Innovations“-Fähigkeiten einschränkt. (Können sie nicht einfach mit der Zustimmung ihrer Kunden innovativ sein?) Das fröhliche Grüppchen hat die Abgeordneten mit so viel Nachdruck dazu aufgefordert, auf die ausdrückliche Zustimmung zu verzichten, dass der Text, den der Ausschuss „Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres“ des Europäischen Parlaments am 29. Mai angenommen hat, voll von Zusatzartikeln ist, die teilweise dem genauen Wortlaut der Vorschläge der Lobbyisten entsprechen...

Der ökonomisch motivierte Druck von Seiten der Industrie ist so intensiv, dass 18 regierungsunabhängige amerikanische Organisationen die USA letztlich sogar eindringlich darum baten, ihre Eingriffe in die europäischen Gesetzgebungsprozesse zu unterlassen. „Die Internetriesen befürchten, dass ihr verarbeitbares Datenvolumen schrumpfen wird, wenn den Internetnutzern mehr Kontrolle gewährt wird“, meint die französische Organisation zum Schutz der Rechte der Bürger im Internet, Quadrature du Net. Und ihre Argumente stoßen auf offene Ohren. Mit der Begründung, der Entwurf bestrafe insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen, (und sei darüber hinaus zu schwammig und außerdem zu feinfühlig,) haben die EU-Abgeordneten den Text vor Kurzem abgelehnt und die weiterführenden Diskussionen auf 2014 vertagt. Bis dahin haben die Internet-Giganten genug Zeit, eine ganze Menge personenbezogene Daten zu erheben.

Genealogie

Ein unvorhergesehenes Hindernis

Die neuen Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten könnten die genealogischen Forschungsarbeiten beeinträchtigen, warnt Helsingin Sanomat.

Laut der Tageszeitung aus Helsinki

muss derjenige, der [genealogische] Nachforschungen anstellt, angeben, ob die Person, über die er forscht, ihm auch die Genehmigung zur Verarbeitung seiner personenbezogenen Daten erteilt hat. Im Klartext bedeutet das: Ahnenforscher müssen alle noch lebenden Personen der Personenstandsregister schriftlich um Erlaubnis bitten. Insgesamt könnte dies mehrere tausend Menschen betreffen.

Dementsprechend besteht die Gefahr, dass sich „die Forschung in Zukunft nur noch auf verstorbene Vorfahren beschränkt“, folgert die Tageszeitung.

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