Für einen neuen deutschen Weg

Angesichts der Krise und der Protesbewegungen der europäischen Jugend gibt es nur eine Lösung: mehr Europa. Ein politisches Ziel, das Angela Merkel mutig zur Priorität machen muss, so wie früher die Ostpolitik in den siebziger Jahren, meint der Soziologe Ulrich Beck.

Veröffentlicht am 31 August 2011 um 15:32

Die deutsche Europapolitik steht vor einer Wende, die so bedeutsam ist wie die der deutschen Ostpolitik Anfang der siebziger Jahre. Die Losung von damals, "Wandel durch Annäherung", könnte heute lauten: "Mehr Gerechtigkeit durch mehr Europa".

Es geht, beide Male, um die Überwindung einer Spaltung, zwischen Ost und West damals, zwischen Nord und Süd heute. Europa ist eine Schicksalsgemeinschaft, so wird es von den Politikern unermüdlich beschworen. Das war sie schon bei der Gründung. Die Europäische Union ist die Idee, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der physischen und moralischen Verwüstung kam. Die Ostpolitik war die Idee, den Kalten Krieg zu entschärfen und den Eisernen Vorhang zu durchlöchern.

Anders als frühere Staaten und Imperien, die ihren Ursprung in Mythen und heldenhaften Siegen feierten, ist die Europäische Union eine transnationale Regierungsinstitution, die aus der Agonie der Niederlage und aus dem Erschrecken über den Holocaust geboren wurde. Aber was meint heute, wo es nicht mehr um Krieg und Frieden geht, die europäische Schicksalsgemeinschaft als neue Generationserfahrung? Es ist die existentielle Bedrohung durch die Finanz- und Euro-Krise, die den Europäern wieder bewusst macht, dass sie nicht in Deutschland oder Frankreich, sondern in Europa leben. Die Jugend Europas erfährt zum ersten Mal ihr "europäisches Schicksal": Besser ausgebildet denn je, trifft sie mit ihren Erwartungen auf den durch drohenden Staatsbankrott und Wirtschaftskrise ausgelösten Niedergang der Arbeitsmärkte. Jeder fünfte Europäer unter 25 Jahren ist arbeitslos.

Eine Ära riskanter Unordnung

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Dort, wo das akademische Prekariat seine Zeltlager errichtet hat und seine Stimme erhebt, geht es in allen Jugendprotesten um die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit - und die wird in Spanien, Portugal, aber auch in Tunesien, Ägypten und Israel (anders als in Großbritannien) gewaltlos und doch machtvoll vorgebracht. Europa und seine Jugend eint die Wut über eine Politik, die mit Geldsummen, die alle Vorstellungskraft übersteigen, Banken rettet, dabei aber die Zukunft der Jugend verspielt. Wenn die Hoffnung der europäischen Jugend der Euro-Krise zum Opfer fällt, welche Zukunft bleibt dann für ein Europa, das immer älter wird?

Fast täglich liefern die Nachrichtensendungen neues Anschauungsmaterial für den Eintritt in eine neue Ära riskanter Unordnung - die "Weltrisikogesellschaft". Seit geraumer Zeit sind die Schlagzeilen austauschbar: Unsicherheit über die Zukunft der Weltwirtschaft, EU-Rettungsschirm in Gefahr, Merkel reist zu Krisentreffen mit Sarkozy, Rating-Agentur erläutert Herabstufung der USA. Signalisiert die globale Finanzkrise den Verfall des alten Zentrums? Ausgerechnet das autoritäre China spielt den Finanzmoralapostel und liest dem demokratischen Amerika, aber auch der EU, die Leviten.

In jedem Fall hat die Finanzkrise eines bewirkt: Alle (auch die Experten und Politiker) sind in eine Welt katapultiert worden, die niemand mehr versteht. Was die politischen Reaktionen betrifft, so lassen sich zwei Extremszenarien gegenüberstellen. Ein hegelianisches Szenario, in dem, mit den Bedrohungen, die der Weltrisikokapitalismus erzeugt, die "List der Vernunft" eine historische Chance erhält. Dies ist der kosmopolitische Imperativ: kooperieren oder scheitern, zusammen gewinnen oder einzeln verlieren.

Lesen sie den kompletten Essay im Spiegel (kostenpflichtig)

Version auf Englisch

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema