Im März 2023 ging ein Artikel der Financial Times um die Welt und löste sowohl in den Medien als auch am Esstisch zahlreiche Kontroversen aus. In Marianna Giustis Text erzählt der Historiker Alberto Grandi (Autor von Denominazione di origine inventata, Mondadori 2020), wie er – um einen modernen Begriff zu verwenden – die italienische Küche „entmystifiziert“ hat.
Grandi wurde vorgeworfen, er habe es gewagt, unter anderem die Geschichte der Pizza und der Carbonara anzurühren. Erstere stammt zwar aus Neapel, wurde aber in ihrer heutigen Form von Einwanderern aus den USA wieder nach Italien „importiert“. Eine völlig andere Form des zweiten Gerichts hingegen verdanken wir den anglo-amerikanischen Truppen, die 1944-1945 an der Befreiung Italiens vom Nazi-Faschismus beteiligt waren.
Durch Grandis Arbeit öffnete sich dank der anschließenden Medienpräsenz eine Art Büchse der Pandora: Der Historiker traf den Kern einer Form des kulinarischen Chauvinismus, der die gesamte italienische Nation und das politische Spektrum durchdringt. Beide sind der Überzeugung, dass „die italienische Küche die beste der Welt ist“ – eine Idee, die vom Marketing unterstützt und vorangetrieben wird – mehr zugetan als dem römischen Recht oder der Kunst der Renaissance.
Diese Idee ist weder neutral noch harmlos, sondern ein Aspekt des so genannten „banalen Nationalismus“: „Der Gastronationalismus ist eine der heimtückischsten Formen dieses ‚banalen Nationalismus‘, weil ihm mit einer gewissen Nachsicht begegnet und er oft mit patriotischem Stolz verwechselt wird. Aber es ist nicht schwer, die Anzeichen einer nationalistischen Tendenz in Bezug auf die Küche zu erkennen“, erklärt Michele Antonio Fino, der die Grundlagen des Europarechts, Lebensmittelrecht und Rechtsökologie an der von Slow Food gegründeten Universität der gastronomischen Wissenschaften in Pollenzo lehrt und zusammen mit Anna Claudia Cecconi das Buch Gastronazionalismo (Peole, 2021) geschrieben hat.
Es gibt zwar noch keine substanziellen akademischen Studien zum Gastronationalismus als Phänomen, wie die britische Soziologin Atsuko Ichijo im Jahr 2020 feststellte, dafür aber vielfältige Studien über Essen und seine kulturelle Bedeutung.
„Wer sind die wahren Italiener*innen, die wahren Däninnen und Dänen, die wahren Französinnen und Franzosen? Essen echte Italiener*innen Couscous? Und echte Französinnen und Franzosen Taboulé?“ – Fabio Parasecoli
Die Soziologin Mathilde Cohen beschäftigte sich beispielsweise mit dem Zusammenhang zwischen „Weißsein“ und französischem Essen. Im Jahr 2010 veröffentlichte die Soziologin Michaela Desoucey einen Text, Gastronationalism: Food Traditions and Authenticity Politics in the European Union (American Sociology Review), um genau dieses Phänomen in Europa zu analysieren. Der Begriff „Gastronativismus“, geprägt von Fabio Parasecoli, der Lebensmittelkunde am Department of Nutrition and Food Studies der New York University unterrichtet (Autor von Gastronativism: Food, Identity, Politics, Columbia University Press, 2022), ist ebenfalls in Erscheinung getreten: „Dieses Konzept kann helfen, die Spannungen um das Essen auszudrücken, wie es in der Politik oder sogar innerhalb einer Nation zur Unterscheidung von Klassen, Religionen und Ethnien ideologisch eingesetzt wird ...“, erklärt er. Kurz gesagt, um zu bekräftigen, „wer zu einer Gemeinschaft gehört ... und wer nicht“.
Essen und Tradition, volle Kraft nach rechts?
Von kulinarischen Traditionen zur Verteidigung traditioneller Werte ist es nicht weit: Die „Verteidigung unserer Produkte ist ein Kampf der Kulturen: In der Politik kann man über alles entscheiden, aber das gilt nicht für ‚Made in Italy‘“, erklärte beispielsweise der damalige italienische Innenminister (heute Verkehrsminister) und Anführer der extremen Rechten Matteo Salvini.
„Diejenigen, die kulinarische Traditionen schätzen und ihre Erinnerung und Praxis bewahren wollen, sind keine Nationalistinnen oder Nationalisten, sie werden zu solchen, wenn sie den Wunsch mit der Behauptung verbinden, dass ihre eigenen Traditionen denen anderer Völker und Länder überlegen sind“, fügt Fino hinzu und spricht von einem „kulinarisch-rassistischen Diskurs“.
Was ist echte italienische Küche? Die politisch wichtige Frage lautet: „Wer sind die wahren Italiener*innen, die wahren Däninnen und Dänen, die wahren Französinnen und Franzosen? Essen echte Italiener*innen Couscous? Und echte Französinnen und Franzosen Taboulé?“, fragt Fabio Parasecoli.
Natürlich kann man Salvini zitieren, der vor gar nicht allzu langer Zeit, im Jahr 2019, Tortellini ohne Schweinefleisch als einen Akt der Auslöschung „unserer Geschichte“ anprangerte. Oder, zum Beispiel, das Schweinefest, das im ostfranzösischen Hayange im Jahr 2014 mit antimuslimischem Unterton vom Bürgermeister der rechtsextremen Partei Rassemblement National Fabien Engelmann (noch im Amt) wieder eingeführt wurde: „Ein Fest wie dieses ist selektiv“, „Eine Gelegenheit, einen Tag mit Gleichgesinnten zu verbringen“, „Hier sieht man wenigstens nicht all die, die in traditionellen Gewändern, Burkas etc. aus der Moschee kommen“, ist in der französischen Tageszeitung Le Monde zu lesen, die sich auf den Weg gemacht hat, um die Teilnehmer*innen des inzwischen zum dritten Mal stattfindenden Festes zu interviewen.
Was wir essen, trägt zur sozialen und kulturellen Konstruktion dessen bei, wer wir sind, und, zusammen mit anderen Elementen, zur Konstruktion der nationalen Identität. Der Staat ist oft daran beteiligt.
Beispiele unter vielen sind die „Bibel“ der italienischen Küche, L'arte di mangiar bene von Pellegrino Artusi, veröffentlicht zur Zeit des Risorgimento, und das Manifesto della cucina futurista aus der Zeit des Faschismus.
„Wir sprechen zum Beispiel von der spanischen Gastronomie, weil der Staat versucht hat, sie zu konstruieren“, erklärt Xavier Medina Luque, Professor für Ernährungsanthropologie an der Universitat Oberta de Catalunya (UOC), gegenüber El Confidencial: „Es wurden unterschiedliche Gerichte ausgewählt, die für verschiedene Regionen repräsentativ sind, und manchmal wurden sie auch erfunden. Die Paella zum Beispiel, die in den 1960er Jahren vom franquistischen Tourismusministerium kreiert wurde, entspricht nicht der Realität. Man suchte nach einem reichhaltigen Gericht, das die Elemente vereint, die Spanien nach außen hin zeigen wollte. Hinter diesem Gericht steckt eine klare politische Absicht und eine Touristenattraktion, die sich schließlich in der spanischen Gesellschaft durchsetzte. Die gemischte Paella, die wir heute zu essen pflegen, ist eine relativ neue Kreation, die nicht der Vorstellung entspricht, die man sich von dem valencianischen Gericht macht“, so der Wissenschaftler weiter.
Die französische Küche hingegen begann„zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert, mit Persönlichkeiten wie Jean Anthelme Brillat-Savarin, Alexandre Balthazar Laurent Grimod de La Reynière, mit der Veröffentlichung von Reiseführern und Almanachen“ sich als „Gastronomie“ (im Sinne von Tischkultur) zu definieren, erklärt die Journalistin Nora Bouazzouni, die drei Bücher über Ernährung und kulturelle Konstruktion veröffentlicht hat, die alle bei Nouriturfu erschienen sind (Mangez les riches – La lutte des classes passe par l'assiette (2023), Steaksisme – En finir avec le mythe de la végé et du viandard (2021), und Faiminisme – Quand le sexisme passe à table (2017). Wir befinden uns in der Zeit nach der Französischen Revolution, und die Bourgeoisie muss in einem Prozess der nationalen Umstrukturierung die Codes des Adels übernehmen.
Außerdem, so Bouazzouni weiter, gehen in Frankreich „der Nationalismus, aber auch der Gastronationalismus, mit leidenschaftlichem Virilismus einher: Durch die Verherrlichung von Fleisch verherrlicht man Frankreich“. Man spricht häufig von einer „französischen Fleischtradition“, vor dem Hintergrund der Idee, dass der Fleischkonsum die kulturelle Konstruktion von Männlichkeit aufwertet. Dieser Trend ist Teil der Stellungnahmen rechtsextremer konservativer Persönlichkeiten weltweit (die sich oft auch dem Kampf gegen den Klimawandel widersetzen).
„Geschützte geografische Angabe“, „Geschützte Ursprungsbezeichnung“: Wenn die Tradition zum „Eigentum“ wird
Diese Stellung des Essens in Bezug auf die Identität kann auch mit der komplexen Beziehung zu einer anderen Identität, der europäischen Identität, zusammenhängen.
In den 1980er Jahren begannen mehrere europäische Länder damit, bestimmte nationale kulinarische Traditionen in das kulturelle Erbe aufzunehmen. Diese Initiativen waren Teil eines umfassenderen Prozesses, der im Jahr 2003 auf der 32. UNESCO-Generalkonferenz in Paris zur Annahme des Übereinkommens zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes führte.
„Unter Patrimonialisierung versteht man die Umwandlung von Kultur in ein Wirtschaftsgut durch einen Schutzprozess, der darauf abzielen sollte, Praktiken, Wissen oder Traditionen für zukünftige Generationen zu bewahren. In Wirklichkeit verwandelt sich die Patrimonialisierung in die manchmal völlig künstliche Schaffung einer kulinarischen Spezifität, die dem freien Markt entzogen und der exklusiven Produktion eines Gebiets oder einer Bevölkerung zugewiesen wird“, erklärt Michele Antonio Fino.
Europa griff mit der Schaffung der Labels „Geschützte Ursprungsbezeichnung“ (g. U., 1992) und „Geschützte geografische Angabe“ (g. g. A.) ein, um diesen fragmentierten Prozess zu harmonisieren und gemeinsame Regeln für einen gemeinsamen Markt aufzustellen.
Darüber hinaus nähern wir uns mit der zunehmenden Technisierung der Lastenhefte (technische Dokumente, in denen die Besonderheiten aufgelistet sind) immer mehr den Patentvorschriften an.
„Ernährungssouveränität“ stellt eine der größten Formen der Vereinnahmung eines positiven und hochgradig sozialen Konzepts dar, um daraus ein Instrument des Rassismus und des Egoismus zu machen
Das Phänomen betrifft nicht nur Europa, sondern ist global, fügt Parasecoli hinzu: „Indien hat zum Beispiel ein ähnliches System geschaffen, China hat ein vergleichbares System. Die Welt ist heute in zwei große Lager gespalten: diejenigen, die glauben, dass diese geografischen Angaben, diese Form des geistigen Eigentums, zur Erhaltung und Entwicklung von Traditionen beitragen können, und diejenigen, die wie die USA, Australien oder Südafrika der Meinung sind, dass es keinen Bedarf gibt und dass die vorhandenen Instrumente zum Schutz des geistigen Eigentums ausreichen“.
Aber, so Fino, „g. U. und g. g. A. wurden als ganz außergewöhnliche Systeme konzipiert, die ausschließlich dazu bestimmt waren, authentische Spezialitäten zu schützen, die eindeutig selten sind. Die immer größere Zahl der Anerkennungen zeigt hingegen deutlich, dass die Union den Mitgliedsländern ein mächtiges Werkzeug in die Hand gegeben hat, um den Nationalismus zu schüren“.
Das Buch Gastronazionalismo geht „von der Feststellung aus, dass ein nationalistisches und manchmal sogar brutales Vokabular rund um das Essen auf der Unterschätzung eines komplexen sozialen Phänomens beruht: In einer Zeit der fluiden Identitäten sorgt eine angebliche nationale gastronomische Identität für Zugehörigkeit, Opposition zu anderen und einen Anspruch auf Überlegenheit“. Ein Beispiel? Niemand würde sagen, dass die Deutschen abstoßend sind. Es ist dagegen absolut nicht problematisch, die deutsche Küche (oder sogar jede andere europäische Küche) als abstoßend oder zumindest als der italienischen Küche unterlegen zu kategorisieren“, erklären die Autorin und der Autor.
Ernährungssouveränität
Ein weiterer Schritt in diesem etwas neurotischen Prozess ist die Schaffung von Ministerien für Ernährungssouveränität: in Italien durch eine rechtsextreme Regierung, in Frankreich durch eine rechte Regierung, in der die extreme Rechte seit mehreren Jahren auf dem Vormarsch ist.
„Diese Terminologie stellt eine der größten Formen der Vereinnahmung eines positiven und hochgradig sozialen Konzepts dar, um daraus ein Instrument des Rassismus und des Egoismus zu machen“, fügt Fino hinzu. „Das Konzept wurde von La Vía Campesina (eine 1993 gegründete Bewegung von Landwirten aus 180 Ländern) entwickelt. Es sollte dazu dienen, das Recht indigener Völker – in erster Linie Lateinamerikas – zu verankern und ihre kulinarischen Traditionen und die Gebiete, auf die sie sich stützen, gegen die expansionistischen Ziele des Anbaus und der Ausbeutung zur Versorgung der Märkte der Ersten Welt zu schützen. Heute wird das Konzept verzerrt, um etwas zu verteidigen, was nicht verteidigt werden muss, wie die Herstellung von Parmigiano Reggiano oder Parmaschinken. Diese Produkte basieren auf der Aushöhlung der Ernährungssouveränität Lateinamerikas, da die größtenteils gentechnisch veränderten Sojabohnen und Mais dort auf Kosten der indigenen Bevölkerung angebaut werden, für den Export nach Italien, wo sie die Tier- und Verarbeitungsindustrie versorgen“.
Esskultur und Geopolitik
Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Fragen im Zusammenhang mit der Esskultur politisch hochgespielt werden.
Im Mai 2019 hat das Außenministerium der Russischen Föderation auf seinem X-Account das berühmteste und bekannteste traditionelle russische Gericht, den Bortsch, angepriesen. Diese Suppe ist Gegenstand eines Rechtsstreits, da ihr Ursprung angeblich in der Ukraine liegt. „Als ob die Annexion der Krim nicht genug wäre, müssen sie jetzt auch noch unseren Borschtsch stehlen“ war eine der Reaktionen der Twittersphäre, erklärte ein Artikel der BBC, der die Kontroverse ernst nahm und versuchte, den ukrainischen Ursprung dieser Suppe zu beweisen.
Oder, aus einer antieuropäischen Perspektive, wenn Europa als ein „Dritter“ wahrgenommen wird, der eine Identität verändert: In Tschechien erscheint eine Form des Gastronationalismus als Kritik am EU-Rahmen und wird von euroskeptischen populistischen und rechtsextremen Parteien genutzt, um den emotionalen Aspekt zu forcieren und die Wählerschaft zu mobilisieren, erklärt Petr Jedlička, Journalist für Deník Referendum.
Bereits zum Zeitpunkt des EU-Beitritts gab es Versuche, das in tschechischen Gaststätten gekochte traditionelle Gulasch zu verteidigen, das der Tradition nach vor dem Servieren einen oder zwei Tage lang ruhen sollte, was nach den europäischen Hygienestandards nicht möglich ist. Oder die Kontroverse um „Pomazánkové máslo“ (Streichbutter), ein Milchprodukt, das aufgrund seines geringen Fettgehalts nicht als Butter bezeichnet werden darf; oder um tschechischen Rum, der aus Kartoffeln hergestellt wird und daher nicht die Bezeichnung „Rum“ tragen darf. Tschechische nationalpopulistische Politiker spielten sich auf und behaupteten, dass die EU es nicht zulassen kann und wird, dass uns „Butter“ und „Rum“ weggenommen werden.
In Ungarn, erklärt Boróka Parászka in der Wochenzeitung Hvg, ist die Verwendung von Nahrung als Identitätsschlüssel eine Konstante der politischen Klasse. Der nationalpopulistische Ministerpräsident Viktor Orbán veröffentlicht regelmäßig über Kochen und Essen und verbreitet Fotos von ihm am Tisch; die ehemalige Justizministerin Judit Varga und die ehemalige Staatspräsidentin Katalin Novák sind die prominentesten weiblichen Figuren, die Spitzenpositionen in der zeitgenössischen Politik bekleidet haben, und „ein Schlüsselelement ihrer Kommunikation war das Teilen von Fotos über Kochen und Familie sowie über Urlaubsvorbereitungen“.
Es handelt sich um „traditionelle“ Gerichte, wobei zu beachten ist, dass diese Tradition von mehreren Autorinnen und Autoren im heutigen Ungarn allmählich in Frage gestellt wird. „Die zeitgenössische ungarische Literatur hat zwar gastronomische Themen als literarische Themen wiederentdeckt, aber andererseits hat eine Neuinterpretation und Dekonstruktion der gastronomischen Mythen begonnen“, erklärt Parászka.
„Wenn wir nach den Ursprüngen von etwas suchen, stellen wir fest, dass es keine reinen Ursprünge gibt, alles ist vermischt. Die meisten Produkte kommen von anderswo, sie haben keinen autochthonen Ursprung“, schließt der Anthropologe Xavier Medina Luque. Wir kommen zu dem Schluss, dass jede Kultur diese Produkte angepasst hat, um besondere Küchen und Lebensweisen zu schaffen. Es gibt Lebensmittel, die wir schon sehr lange haben, während es andere erst seit viel kürzerer Zeit gibt, aber sie alle sind letztendlich Teil unserer Esskulturen geworden“.
Dieser Artikel wurde im Rahmen des Projekts PULSE in Zusammenarbeit mit Boróka Parászka von Hvg (Ungarn), Petr Jedlička von Deník Referendum (Tschechische Republik), Lorenzo Ferrari OBCT (Italien) und Andrea Muñoz von El Confidencial (Spanien) erstellt .