Polnische Grenzbeamte kontrollieren eine tschetschenische Familie am Bahnhof Terespol (Polen).

Gespenster gehen um in Europa

Karina und Ruslan sind aus Tschetschenien nach Frankreich geflüchtet. Dort wurden sich nach Polen, dem Land, über das sie in die EU gekommen sind, abgeschoben. Eine absurde Route, diktiert von der Dublin II-Verordnung, schreibt Le Monde.

Veröffentlicht am 18 Januar 2011 um 17:10
Polnische Grenzbeamte kontrollieren eine tschetschenische Familie am Bahnhof Terespol (Polen).

Sie erinnert sich an den Wochenmarkt von Tours im sonnigen August 2008. „Das war so schön, alles so sauber.“ Sie lacht auf. Dann erinnert sie sich noch an den Park, in dem sie mit ihren anderen tschetschenischen Freunden spazieren gegangen waren. Alle waren vor einigen Jahren über Polen nach Frankreich gekommen. Sie war damals schwanger. Sie glaubten sich nun außer Gefahr. Doch ach! Ihr Glück währte nicht lange und schon bald sollte ihr Leben wieder umgekrempelt werden. Zwar mussten sie nicht in die Hölle zurück, aber für sie begann nun das ruhelose Umherirren der vom Asylrecht Ausgeschlossenen.

Es brauchte nur ein paar Tage, dann gehörten auch Karina, 25, und Ruslan, 27, zum unsichtbaren Heer von Europas Zombies. Selbst schuld, oder fast. Sind sie nicht selbst zur Präfektur gegangen, um sich anzumelden, und sind sie nicht dort wieder hingegangen mit einer Vorladung, „um Papiere abzuholen“? Was dann geschah, daran erinnern sie sich, als sei es gestern gewesen: an die Polizisten in Zivil, die hinter dem Schalter hervorkamen, an die Nacht auf der Polizeiwache und wie sie dann morgens mit Polizeiautos an den Pariser Flughafen Roissy Charles de Gaulle verfrachtet wurden, in Handschellen. Aus der Traum. Hier, wo sie jetzt sind, ist Warschau dreißig Autominuten entfernt, Frankreich aber Lichtjahre.

Ihr Unglück trägt den Namen „Dublin II“

Es waren die Polizisten, die ihnen den Namen und die Ursache ihres Unglücks nannten: Dublin. Die irische Stadt hat ihren Namen 2003 einer EU-Verordnung gegeben, die für alle EU-Länder — und somit auch für Polen, EU-Mitglied seit 2004 — gilt: Dublin II.

Gemäß dieser Verordnung ist es das Eintrittsland des Asylbewerbers, also das EU-Land, welches er als erstes betritt (und in dem er seine Fingerabdrücke hinterlassen muss), das dessen Asylantrag prüfen muss. Sollte sich der Antragssteller nicht mehr in diesem Land befinden, muss er dorthin überführt werden. „Wir glaubten, das Schwierigste wäre es, über die Grenze und dann nach Frankreich zu kommen. Aber wir lagen völlig daneben“, sagt Ruslan mit bitterem Lächeln.

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Das flache, etagenlose Haus, in dem das Paar mit ihrem Kind letztlich gelandet ist, liegt auf einer Wiese, mitten auf dem Land westlich von Warschau. Sie mieten dort ein Zimmerchen zu einem horrenden Preis. Zwei weitere tschetschenische Familien leben in dem Haus. Von den „Dublinern“, wie sie von den Hilfsorganisationen genannt werden, gibt es mehrere Tausend in Polen.

Sie alle hatten versucht, sich anderswo in Westeuropa abzusetzen und sind geschnappt worden. Deshalb wurden „die Dubliner“ an ihren Ausgangspunkt zurückgeschickt. Und nur ein Gedanke treibt sie um: Nichts wie weg. Denn Polen, das 2007 dem Schengen-Raum beigetreten ist, bleibt für die Flüchtlinge weiterhin „ein Transitland“, notieren Kristyna Iglicka vom Zentrum für internationale Beziehungen in Warschau und Magdalena Ziolek-Skrypczak von der Ludwig-Maximilian-Universität in München in ihrer Studie zu den Flüchtlingsströmen in Polen, welche vom Migration Policy Institute im September online gestellt wurde.

Der Beitritt zum Schengen-Raum sei „ein abgekartetes Spiel“ gewesen, welches einzig der „Umschichtung repressiver Maßnahmen“ diene, schätzt ihrerseits die polnische Forscherin Paulina Nikiel in ihrem Anfang November vom Netzwerk Migreurop veröffentlichten Bericht „An Europas Grenzen“. Polen würde vom „Pufferstaat“ zum „Endziel“ — ähnlich wie Marokko, wo zahlreiche Asylbewerber festsitzen.

In den Flüchtlingslagern herrschen quasi Gefängnisbedingungen

Polen sei „ärmer und hilfloser als Frankreich, Belgien oder Deutschland“, meint Anna Kuhn, Präsidentin des Vereins Polen-Tschetschenien. Auch wenn sich die Lage für Ausländer und insbesondere Flüchtlinge in den letzten fünf Jahren verbessert habe, so sei das Schicksal der Menschen dort alles andere als idyllisch.

In den Rückhaltelagern für Flüchtlinge herrschen quasi Gefängnisbedingungen: „Die Freiheit ist extrem eingeschränkt und besteht quasi nur aus Toilettengang und einer Stunde Hofgang pro Tag“, notiert Paulina Nikiel.

Bei der Mehrheit der Insassen dieser geschlossenen Anstalten, darunter „ganze Familien mit minderjährigen Kindern“, handele es sich um Asylbewerber ohne gültige Papiere, die versucht hatten illegal über die Grenzen zu kommen oder denen es vielleicht sogar gelungen war. Nach ihrem Aufenthalt in diesen Lagern, der von ein paar Monaten bis zu einem Jahr dauern kann, werden sie auf die Straße gesetzt.

Unter den im Jahr 2009 registrierten 10.500 Asylbewerbern, sind die „Auserwählten“ rar. „Zwischen 1992 und 2009 wurde nur 3113 Asylanträgen stattgegeben“, das macht 3,5 Prozent der Anträge, schreiben Iglicka und Ziolek-Skrzypczak in ihrer Studie. Weniger als 4 Prozent! Unter den „Glückspilzen“ ein paar Tschetschenen, aber auch Bosnier, Somalier, Weißrussen, Afghanen, Sri-Lankaner und Iraker. Von den mehr als 4000 Antragsstellern aus Georgien hingegen, bekam im Jahr 2009 kein einziger eine Aufenthaltsgenehmigung. Kein Wunder also, dass viele Migranten ihr Glück weiter westlich versuchen. Und jene, die Pech haben, werden die Ränge der „Dubliners“ weiter vergrößern.

„Frankreich und Deutschland waren die ersten Länder, die massiv Tschetschenen nach Polen abgeschoben haben“, sagt Issa Adayev, der in Warschau unter Federführung der Stiftung „Open Space“ eine Beratungsstelle für Flüchtlinge gegründet hat. Für den tschetschenischen Aktivisten seien „Deportationen“ von Tschetschenen nach Moskau keine Seltenheit mehr. Viele dieser „Deportierten“ seien „verschwunden“, fügt Issa Adayev hinzu.

Genauso wenig wie andere Hauptstädte der EU, ob nun Paris, Wien, oder Berlin, will sich Warschau nicht mit dem Putin-Regime überwerfen. Vorbei die Zeiten, als der französische Minister für Zuwanderung Brice Hortefeux, wie der Verein Forum Réfugiés berichtet, den Präfekten mitteilte, dass „eine Übergabe an Polen im Sinne der Dublin-Verordnung nicht wünschenswert“ sei und zwar aufgrund der Lage in Tschetschenien und aufgrund des Risikos einer Abschiebung nach Russland via Weißrussland oder der Ukraine. Das war im Juni 2007. Ein Jahr bevor Ruslan und Karina sich auf den Weg machten, und die französische Regierung eine komplette Kehrtwendung machte.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

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