Bild aus "Classe libre", von Clara Elalouf. Classe libre Clara Elalouf

Der Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt erfordert Aufklärung über das Gefühlsleben, Beziehungen und Sexualität 

Mehrere EU-Länder haben Sexualkunde und/oder emotionale und zwischenmenschliche Bildung in den Lehrplan aufgenommen: Der Widerstand ist nach wie vor groß und wird durch die konservative Welle, die über den Kontinent hinwegrollt, noch verstärkt. Einwilligung, Geschlechterverhältnisse, Dominanz und sexuelle Gewalt können (und müssen) mit jungen Menschen diskutiert werden.

Veröffentlicht am 20 November 2025
Classe libre Clara Elalouf Bild aus "Classe libre", von Clara Elalouf.

Seit 2018 bekräftigt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) , dass eine „umfassende“ Sexualaufklärung eine zentrale Rolle dabei spielt, junge Menschen auf ein „sicheres, produktives und erfülltes Leben in einer Welt vorzubereiten, in der HIV und Aids, sexuell übertragbare Infektionen, ungewollte Schwangerschaften, geschlechtsspezifische Gewalt und Ungleichheit weiterhin eine ernsthafte Gefahr für ihr Wohlergehen darstellen“. 

Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, aber paradoxerweise ist Sexualerziehung und emotionale Bildung auch heute noch nicht in ganz Europa Teil des Lehrplans.

Mehrere Länder haben diese beiden Themen in den Schulunterricht aufgenommen, aber es gibt noch immer viel Widerstand. Die Welle des Konservativismus, die den Kontinent erfasst hat, – parallel zu der, die aus den USA kommt – hat Auswirkungen auf die Fähigkeit der Regierungen, die Programme umzusetzen, sowie auf die öffentliche Gesundheit allgemein. 

Der Fall Frankreich: Aufklärung über Sexualität und Emotionalität in der Schule und darüber hinaus

Seit 2001 (Gesetz 2001-588) ist Sexualkunde in Frankreich Pflichtfach und muss – bzw. sollte – landesweit sowohl in öffentlichen als auch in privaten Grundschulen, Mittelschulen und Gymnasien mindestens Gegenstand von drei Unterrichtsstunden pro Schuljahr sein. 

Die Realität sieht jedoch anders aus. Le Monde schreibt: „Laut einem offiziellen Bericht aus dem Jahr 2021 ‚profitieren weniger als 15 Prozent der Schüler*innen in der Grundschule oder weiterführenden Schule von drei [Sexualkunde]-Unterrichtsstunden während des Schuljahres (in der Mittelstufe sind es weniger als 20 Prozent)‘“. Diese Nichtanwendung führte 2023 zu einer Klage von drei Vereinen (Planning familial, SOS homophobie und Sidaction) gegen den Staat. 

Seit dem laufenden Schuljahr (2025-26) ist die Erziehung zum Gefühls- und Beziehungsleben und zur Sexualität (Education à la vie affective et relationnelle et à la sexualité, Evars) fester Bestandteil des französischen Lehrplans

Valentin classe libre Clara Elalouf
Didier Valentin/Drkpote. Bild aus Classe libre von Clara Elalouf 

Der Zeitraum zwischen 2001 und 2025 hat trotz aller Mängel die Schaffung von Raum für Diskussionen und bewährte Praktiken ermöglicht. Ein interessanter Fall in dieser Hinsicht ist der von Didier Valentin/Drkpote, der seit etwa zwanzig Jahren als Moderator im Bereich Affektivitäts- und Sexualerziehung an Mittel-, Ober- und Berufsschulen tätig ist. 

Valentin, dessen Werdegang mit der HIV-Prävention begann, erklärt, dass seine Arbeit ursprünglich auf einer „hygienistischen“ Prävention (praktische Prävention gegen sexuell übertragbare Krankheiten) basierte, heute jedoch vor allem auf „Geschlechterfragen, sexistischer und sexueller Gewalt, Einwilligung und der Beziehung zum anderen“ fokussiert ist. 

Valentin arbeitet vor allem mit Jugendlichen der Mittel- und Oberstufe und diskutiert über „Geschlechtsidentität, Geschlechterrollen und wie sich Dominanzverhältnisse etablieren“. Seine Arbeit ist Gegenstand eines Dokumentarfilms von Clara Elalouf (Classe libre). Er hat zwei Bücher verfasst, Génération Q : Chroniques (Ed. La Ville brûle, 2018, eine Sammlung seiner Artikel für die feministische Zeitschrift Causette) und Pubère la vie : À l’école des genres (Ed. du Détour, 2023). 

Valentins „Unterricht“ hat auch eine sehr praktische Seite: Er verteilt nicht nur Kondome, sondern erklärt auch die Anatomie, lässt eine Silikonvulva unter den Schülern herumgehen und spricht über Verhütung, auch für Männer.

classe libre Clara Elalouf
Bild aus Classe libre, von Clara Elalouf 

Die #MeToo-Bewegung, erklärt er, „war auch eine Revolution in der Bildung, aber nicht für Jugendliche“: Die jungen Menschen blieben Twitter (heute X) und diesem Ereignis fern. Es waren die Erwachsenen, die sich verändert haben: „Einwilligung und sexuelle Gewalt waren seit Langem Teil unserer Ausbildung, aber nach #MeToo sind sie zum zentralen Thema geworden.“ 

Wichtig sei es, so Valentin weiter, seinen jungen Gesprächspartnerinnen und -partnern zu zeigen, dass „Geschlechterrollen sehr, sehr früh beginnen“ und wie „leicht“ sich später Dominanzverhältnisse im Gefühlsleben, dann im Sexualleben und schließlich in der Ehe festsetzen. 

Der Beruf von Didier Valentin ist nach wie vor eine typische Frauenarbeit: „Es gibt nicht viele cis-heterosexuelle Männer, die diesen Beruf ausüben“, der, wie er hinzufügt, „zu den Pflegeberufen“ zählen sollte. 

Ann-Laure Bourgeois, Lehrerin und Journalistin, Gründerin von „Les ateliers badass“ und Autorin des Elternratgebers Parents informés, enfants protégés, ist auch Ausbilderin und Beraterin für sexuelle Gesundheit von Kindern. Sie erklärt mir, wie wichtig die Rolle der Eltern ist: „Aufklärung über Intimität beginnt zu Hause: Auch Eltern müssen lernen, dass ein Kind ‚Nein‘ sagen darf“, zum Beispiel, wenn es berührt werden soll, oder dass sie um Erlaubnis fragen müssen, bevor sie ein Foto machen. „Die Kultur der Einwilligung beginnt zu Hause“, fügt sie hinzu. 

Wenn Erwachsene, erklärt sie, die körperlichen Grenzen eines Kindes respektieren, wird sich dieses „in der Schule oder an anderen Orten der Sozialisierung berechtigt fühlen, seine eigenen Grenzen zu setzen“. Auf diese Weise werden wir Erwachsene hervorbringen, die „toleranter, glücklicher und besser informiert sind, wodurch Gewalt reduziert werden kann“. 

Wie sieht die Situation in Europa aus?

Sexualkunde ist keine „europäische Zuständigkeit“ – Artikel 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) legt fest, dass die EU unterstützende Zuständigkeiten im Bereich der Bildungs- und Gesundheitspolitik hat, dass diese jedoch Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bleiben –, aber die EU richtet sich nach internationalen Empfehlungen

Zwischen den Mitgliedstaaten gibt es teilweise radikale Unterschiede, was zu Situationen wie in Ungarn, Polen und Bulgarien führt. Dort sind Diskussionen über Geschlechtsidentität und LGBT+-Rechte tabu oder illegal. Die Länder gleichen sich damit den reaktionären Positionen Russlands an.

In einigen Ländern, wie Schweden und Finnland, ist Sexualkunde Teil der Pflichtschulbildung und in Fächer wie Gesundheitserziehung und Biologie integriert. Deutschland bietet eine umfassende Sexualerziehung von der Grundschule bis zur Sekundarstufe an: Dabei geht es um Biologie, aber auch um Einwilligung, Beziehungen, sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität. Auch in Belgien ist Sexualerziehung obligatorisch, wobei die Modalitäten der Umsetzung in Flandern und Wallonien unterschiedlich sind. In Österreich wird Sexualkunde in den Schulen angeboten und ist ab der Grundschule Teil des Lehrplans: „Sexualkunde wird heute als eine Form der schulischen Bildung verstanden, die in der frühen Kindheit beginnt, dem Alter der Kinder angemessen ist und bis ins Erwachsenenalter fortgesetzt wird“, und Sexualität wird als „positives Potenzial des Menschen“ verstanden, wie Der Standard dazu anmerkt. 

Die große Abwesende

In Italien ist Sexualkunde noch immer ein Wunschtraum: „Im Zuge des Falls Cecchettin hat Bildungsminister Giuseppe Valditara einen Plan für Schulen mit dem Titel „Educare alle relazioni“ (Beziehungen lehren) vorgestellt. Es handelt sich um fakultativen Unterricht, der nicht Teil des Lehrplans ist und von Organisationen, die sich seit Jahren mit diesem Thema befassen, als unzureichend bewertet wird. Die ursprünglich für die Sexual- und Emotionserziehung in Schulen vorgesehenen 500.000 Euro wurden schließlich für die Schulung von Lehrenden zur Prävention von Unfruchtbarkeit verwendet“, schreibt Claudia Torrisi in Internazionale. „Seit dem ersten Versuch im Jahr 1975 wurden sechzehn Vorschläge für Sexualkundeunterricht in Schulen abgelehnt“, erklärt sie.

Die Situation der Sexualerziehung an litauischen Schulen ist sehr uneinheitlich und oft fragmentarisch, erklärt Delfi. Obwohl Sexualkundeunterricht in vielen Schulen Teil des Lehrplans ist, findet er selten statt, manchmal nur formal.

In Rumänien ist Sexualkunde nach wie vor ein Tabuthema, so HotNews. Es wurde beschlossen, ein Fach namens „Gesundheitserziehung“ einzuführen, das im Rahmen des Biologieunterrichts unterrichtet werden kann. Obwohl das Bildungsgesetz festlegt, dass Gesundheitserziehung in der Vorschule ein Pflichtfach ist, hat das Parlament 2022 nach jahrzehntelangen hitzigen Debatten über den Begriff „Sexualerziehung“ selbst die Zustimmung der Eltern für Schüler*innen der 8. Klasse und darüber hinaus für den Sexualkundeunterricht eingeführt.

Auch in Bulgarien ist Sexualkunde kein eigenständiges Fach. Stattdessen ist es Teil des Unterrichts „Biologie und Gesundheitserziehung“ von der dritten Klasse der Mittelstufe bis zur fünften Klasse der Oberstufe.

In Griechenland wird Sexualkunde im Rahmen des Fachs „Wohlbefinden“ unterrichtet, das auch „Umwelt“, „Soziales Bewusstsein und Verantwortung“ sowie „Kreativität und Innovation“ umfasst. Da es den Lehrenden freisteht, zu entscheiden, welche dieser Themen sie behandeln und wie viel Zeit sie dafür aufwenden, wird Sexualkunde oft beiseite geschoben und durch weniger „heikle“ Themen ersetzt, erklärt Efsyn.

In Polen war lange Zeit das einzige Fach „Erziehung zum Familienleben“. Mit Beginn des Schuljahres 2025-26 wurde ein neues, nicht obligatorisches Fach namens „Gesundheitserziehung“ eingeführt. Dieses Fach soll auch die sexuelle Gesundheit behandeln, was der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) ein Dorn im Auge ist. Kritisierende der PiS argumentierten, dass der Lehrplan „schädliche Elemente enthält, darunter die Trennung von Sexualität und Liebe, Ehe und Familie, die Förderung von Abtreibung als Gesundheitsdienstleistung und die Verbreitung der Gender-Ideologie“. Auch die katholische Kirche, die in Polen eine besonders einflussreiche Rolle spielt, hat den Unterricht als „familienfeindlich“ und „geschlechtsdestabilisierend“ angeprangert und behauptet, er würde „Kinder moralisch korrumpieren“.

🤝 Dieser Artikel entstand im Rahmen des PULSE-Projekts, einer europäischen Initiative zur Förderung grenzüberschreitender journalistischer Zusammenarbeit. Zu den Mitwirkenden gehören Lisa Nimmervoll (Der Standard, Österreich), Ieva Kniukštienė (Delfi, Litauen), Ștefania Gheorghe (HotNews, Rumänien), Marina Kelava (H-alter, Kroatien), Desislava Koleva (Mediapool, Bulgarien) und Giota Tessi (Efsyn, Griechenland).

Schätzen Sie unsere Arbeit?
 
Dann helfen Sie uns, multilingualen europäischen Journalismus weiterhin frei zugänglich anbieten zu können. Ihre einmalige oder monatliche Spende garantiert die Unabhängigkeit unserer Redaktion. Danke!

Weitere Kommentare anzeigen Ich werde Mitglied, um Kommentare zu übersetzen und Diskussionsbeiträge zu leisten

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie Journalismus, der nicht an Grenzen Halt macht.

Stärken Sie unsere Unabhängigkeit durch eine Spende.

Zum gleichen Thema