Ende der 1980er-Jahre gründete der Autor und Journalist Hervé Kempf das Umweltmedium Reporterre. Kempf hatte zuvor u. a. für die französische Wochenzeitung Courrier International und Le Monde gearbeitet und ist Autor mehrerer Bücher, darunter Comment les riches détruisent la planète („Wie die Reichen den Planeten zerstören“, Points essais, 2007).

Reporterre ist nicht nur redaktionell, sondern auch „kommerziell“ ein Erfolgsmodell. Alle Inhalte sind frei zugänglich; die Seite finanziert sich zu 98 % über Spenden von Lesern und Leserinnen und durch den Verkauf von Büchern in Zusammenarbeit mit dem Verlag Le Seuil. Die von einem Verein betriebene Website zählt monatlich zwei Millionen Leser bei einem Jahresbudget von rund 2,7 Millionen Euro. 27 fest angestellte Mitarbeiter arbeiten für Reporterre, darunter 19 JournalistInnen, die sich für eine klare redaktionelle Linie engagieren:
„Ökologie ist das entscheidende politische Thema zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Ökologie ist politisch und kann nicht auf Fragen der Natur und der Umweltverschmutzung reduziert werden. Ökologie betrifft unser aller Schicksal und unsere gemeinsame Zukunft. […] Fragen der politischen und sozialen Ökologie werden daher auf Reporterre behandelt und diskutiert.” Auch kennzeichnet Reporterre flache Hierarchien in der Zusammenarbeit, was im Medienbereich selten ist und ein Modell für die Presse sein sollte.
Voxeurop: Reporterre wurde 1989 ein erstes Mal gegründet. Was hat Sie dazu bewogen, dieses Projekt zu starten?
Hervé Kempf: 1986 gab es den Unfall in Tschernobyl. Das hat mich damals sehr getroffen. Mir wurde klar, dass Umwelt ein zentrales Thema ist, stellte aber fest, dass es keine spezielle Zeitung dafür gab, die nicht von Aktivisten herausgegeben wurde. Daher beschloss ich, mit dem Geld, das ich geerbt hatte, eine solche zu gründen. Aber ich wusste, dass mein Kapital nicht reichte. Geholfen hat uns ein Titel der Time, damals eine sehr wichtige Zeitschrift, die im Januar 1989 die Erde zum „Planet of the Year” kürte, anstelle der sonst üblichen „Person of the Year.” So haben nicht nur die Medien, sondern auch die Menschen begriffen, wie wichtig das Thema Umwelt ist. Wir hatten also einen guten Start, verkauften jeden Monat im Schnitt 26.000 Exemplare und hatten am Ende 4.600 zahlende Abonnenten. Aber wir hatten trotzdem zu wenig Kapital, sodass wir nach einem Jahr aufhören mussten. Ich arbeitete danach zunächst frei für verschiedene Medien und wurde 1998 von Le Monde als Umweltredakteur angestellt.
eing hired by Le Monde in 1998 to cover the environment.
2007 wurde Reporterre neu gegründet. Wie kam es dazu?
2007 erschien mein Buch Comment les riches détruisent la planète. Darin erklärte ich, wie untrennbar die soziale Frage und die ökologische Frage zusammenhängen. Um zu zeigen, wie sich das in den täglichen Nachrichten widerspiegelte, rief ich eine Internetseite ins Leben, die ich Reporterre nannte - und das war unsere zweite Geburtsstunde. Weiter bei Le Monde angestellt, betrieb ich die Seite nebenbei. Ich lernte, wie man fürs Internet schreibt. Als Le Monde 2012-2013 anfing, meine Artikel zu zensieren und zunehmend mit mir in Konflikt geriet, habe ich zusammen mit Freunden beschlossen, Reporterre auf professioneller Ebene zu betreiben, mit Informationen, für die die Leser bereit sind, zu zahlen. (Warum Kempf Le Monde verlassen hat, können Sie hier nachlesen).
Der Vorteil des Internets ist, dass es viel billiger ist, als eine Zeitung zu drucken und zu vertreiben. 2013 hatte Reporterre noch keine Angestellten. Ich war alleine und arbeitete unbezahlt. Dann kamen nach und nach Spenden herein, ich hielt Vorträge über mein Buch und bat die Leute, nicht mich, sondern für die Website zu zahlen. Wir fingen an, kleine Zuschüsse von privaten Stiftungen zu bekommen. So konnte ich schnell ein paar freie Mitarbeiter bezahlen und einen Journalisten befristet anstellen. Die Zahl unserer Leser stieg, die Spenden auch und so setzte sich schnell eine positive Dynamik in Gang.
Ihr Essay Wie die Reichen den Planeten zerstören, wurde in zehn Sprachen übersetzt. Die Comic-Version (Comment les riches ravagent la planète, Seuil), die 2024 in Zusammenarbeit mit dem Zeichner Juan Mendez erschien, veranschaulicht den Zusammenhang zwischen den strukturellen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften und der Klimakrise sehr deutlich. Warum haben Sie sich für eine Graphic Novel entschieden?
Sie war ein Erfolg und verkaufte sich in kurzer Zeit 30.000 Mal. Mittlerweile sind es 70 000 und wir sind bei der vierten Auflage.

„Du fährst zu schnell, Hervé!!!”
Auszug aus: Kempf/Mendez: Wie die Reichen den Planeten verwüsten (Le Seuil, 2024).
Dieses Buch hat wesentlich zum Verständnis beigetragen, dass die ökologische und die soziale Frage untrennbar miteinander verbunden sind. Damals betrachtete die Linke, vereinfacht gesagt, Ökologie noch als Randthema und die Umweltschützer ignorierten oder unterschätzten die Herausforderung der damit zusammenhängenden sozialen Ungleichheiten. Es war dringend notwendig, die Beziehung zwischen diesen beiden Themen aufzuzeigen, und ich bin froh, dass dies jetzt selbstverständlich geworden ist.
Was wir heute noch begreifen müssen, ist, dass die Frage der Reichen und der sozialen Ungleichheit nicht nur die Musks, Bollorés und Arnaults betrifft. Alle europäischen Mittelschichten sind an der Zerstörung des Klimas und der Umwelt beteiligt. Zwischen 40 % und 60 % der Menschen in Europa - mich eingeschlossen - gehören zu den 10 % der reichsten Menschen weltweit. Es geht also nicht darum, „auf die Reichen einzuprügeln“, sondern darum, die Ungleichheiten insgesamt zu verringern, indem wir in den reichen Ländern gemeinsam auf einen sparsameren Umgang mit Energie hinarbeiten.

„Deine Zeichnung ist nicht schlecht, aber ich hätte eher Rot für die 1% genommen …“.
Auszug aus Kempf/Mendez : Wie die Reichen den Planeten verwüsten (Le Seuil, 2024).
Reporterre hat eine starke redaktionelle Linie. Würden Sie sagen, dass es einen Zusammenhang zwischen politischem Engagement und dem Beruf des Journalisten gibt?
Dabei handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Dinge. Journalisten geben vor, ihren Mitmenschen die Welt zu erzählen. Sie tun dies bestenfalls mit größtmöglicher Ehrlichkeit, indem sie recherchieren, sich selbst umsehen, die Fakten überprüfen und nach möglichen Widersprüchen suchen.
Daraus kann dann eine bestimmte Haltung entstehen: „Ich betrachte die Welt, aber behaupte nicht, objektiv zu sein, sondern ich beobachte sie aus einem bestimmten Blickwinkel.” Dieser Standpunkt ist dann die redaktionelle Linie.
Die meisten Journalisten und Medien definieren ihre redaktionelle Linie nicht klar. Wir von Reporterre definieren sie, indem wir sagen, dass die ökologische Frage die wichtigste politische Frage des 21. Jahrhunderts ist. Von dieser ausgehend versuchen wir über die Ereignisse zu berichten.
Ein anderes Beispiel ist der Economist, eine sehr gute Zeitung, die ebenfalls eine klare redaktionelle Linie verfolgt: Sie ist der Ansicht, dass der Liberalismus der Gesellschaft ermöglicht, in Frieden und Wohlstand zu leben. Von diesem Standpunkt aus erzählen sie die Welt. Und das tun sie in der Regel sehr gut.
Politisches Engagement dagegen bedeutet, dass ich eine Weltanschauung vertrete, mich mit einer politischen Doktrin oder Partei identifiziere und versuche, auf die Gesellschaft einzuwirken, indem ich die Ideen dieser Partei oder Doktrin verbreite. Und zwar mit dem Ziel, die Menschen zu überzeugen und an die Macht zu kommen.
Wir Journalisten wollen nicht an die Macht kommen, und wenn Umweltparteien Dinge tun, die uns nicht passen, dann berichten wir darüber. Wir schreiben keine Meinungsartikel, sondern machen Nachrichten: Wir haben eine redaktionelle Linie, also einen bestimmten Blick auf die Welt und stehen dazu.
Auch wichtig ist die Frage der Unabhängigkeit. Wie kann man sie garantieren?
Das ist eine grundlegende Frage. Unabhängigkeit ist ein Garant für qualitative Informationen. Deshalb ist Reporterre unabhängig. Wir sind ein gemeinnütziger Verein. Es gibt keine Aktionäre, 98 % unserer Einnahmen kommen von den Leserinnen und Lesern. Und es handelt sich dabei um kleine Spenden. Es gibt keine Großspender, die 10.000 oder 5.000 Euro spenden würden.
Trägt der Journalismus eine Mitverantwortung an der demokratischen Krise, die wir gerade erleben?
Journalismus ist ja kein allgemeiner Begriff. Die Mitverantwortung der Journalisten und Journalistinnen besteht darin, nicht verhindert zu haben, dass Milliardäre ihre Medien gekauft und sie nicht ausreichend für ihre Unabhängigkeit gekämpft haben. Und das ist eine große Verantwortung.
Wir sollten von Journalisten verlangen, dass sie die Grundprinzipien des Journalismus respektieren. Für mich ist das vor allem Freiheit. Journalist zu sein bedeutet, frei zu sein und sich für die Freiheit einzusetzen. Man muss frei sein, um die Qualität der produzierten Informationen zu garantieren.
Ich erzähle die Welt, vielleicht mache ich das nicht gut, aber Sie wissen, aus welcher Perspektive ich sie erzähle, und Sie wissen, dass mich niemand zu meinen Äußerungen zwingt. Journalisten müssen für ihre eigene Freiheit und für die Freiheit im Allgemeinen kämpfen. Das ist der Preis, den wir für das Privileg, diesen aufregenden Beruf ausüben zu dürfen, zahlen sollten.
Aber es gibt eine strukturelle Sackgasse, die auf die Krise der Presse zurückzuführen ist. Wie kann man diese überwinden?
Presse ist natürlich auch ein Wirtschaftssystem. Aber es gibt auch mutige Menschen. Wie Catherine André bei Voxeurop, wir bei Reporterre, die Kollegen und Kolleginnen von Arrêt sur Images oder Mediapart ... all die jungen Journalisten und Journalistinnen, die für die Gründung unabhängiger Medien kämpfen. Die unabhängige Presse wächst und könnte vom Kapital abhängige Mainstream-Medien inspirieren. Wir sind mit ständigen wirtschaftlichen Herausforderungen konfrontiert. Aber wir müssen trotzdem weiter für unsere Unabhängigkeit von Aktionären kämpfen.
„Journalist zu sein bedeutet, frei zu sein und sich für die Freiheit einzusetzen“
Reporterre hat ein recht horizontales Funktionsmodell, das man nicht oft in den Medien findet. Wie funktioniert es?
redaktionellen Linie wacht. Ich selbst bin Redaktionsleiter und habe einen Stellvertreter.
Außerdem haben wir eine „rotierende Chefredaktion”: Alle zwei Wochen übernimmt eine oder einer von unseren fünf erfahrensten Journalisten die tägliche Redaktion, leitet Redaktionskonferenzen und entscheidet über die Gestaltung der Titelseite. Das funktioniert sehr gut und hilft uns, eine Kultur der kollektiven Intelligenz zu entwickeln.
Am Anfang war Reporterre sehr klein, also habe ich alles gemacht. Dann sind wir gewachsen und auch ich habe mich weiterentwickelt. Ich kam von Le Monde, wo es starke Hierarchien gibt. Wir haben eine viel horizontalere Arbeitsweise, auch wenn Vertikalität manchmal notwendig ist, um Entscheidungen zu treffen.
Auch der europäische Kontext spielt bei Reporterre eine wichtige Rolle. Was bedeutet Europa für Sie heute?
Ich hänge weiterhin an der Idee von Europa. Umso mehr, seitdem wir den Aufstieg der Rechtsextremen - um nicht zu sagen der Faschisten - erleben, die Europa zerschlagen wollen.
Ich komme aus Ostfrankreich und bin sehr sensibel für die Gräuel, die sich im Ersten und Zweiten Weltkrieg ereignet haben. Besonders für Deutschland und Frankreich besteht das europäische Ideal darin, trotz unserer Meinungsverschiedenheiten und Unterschiede in Frieden miteinander zu leben und dieses gemeinsame Werk weiter zu führen.
Ich weiß, dass das ein Ideal ist, aber wir handeln ja alle nach einem Ideal. Bei Reporterre arbeiten wir auch in Bezug auf das Ideal einer ökologischen, gerechten und wenn möglich fröhlichen Welt!
Das Problem ist, dass Europa in einer neoliberalen Logik verharrt. Es gibt zwar den Geist Europas, doch die politische Umsetzung ist schon sehr enttäuschend.
🤝 Dieser Artikel wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht
Seit den 1980er Jahren und der Finanzialisierung der Wirtschaft haben uns die Akteure der Finanzwirtschaft gelehrt, dass sich hinter jeder Gesetzeslücke eine kurzfristige Gewinnmöglichkeit verbirgt. All das und mehr diskutieren wir mit unseren Investigativ-Journalisten Stefano Valentino und Giorgio Michalopoulos. Sie haben für Voxeurop die dunklen Seiten der grünen Finanzwelt aufgedeckt und wurden für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet.
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