„Ich bin ein Fan der europäischen Krise”

Ein Europa der Regionen, in dem die Staats- und Regierungschefs nationale Belange hinten anstellen: So sieht der Wiener Schriftsteller Robert Menasse das postnationale Europa. Trouw interviewte ihn anlässlich des Erscheinens der niederländischen Ausgabe seines Essays „Der Europäische Landbote“.

Veröffentlicht am 21 Juni 2013 um 14:34

„Ich war einst zu Besuch bei einem Mitarbeiter der Europäischen Kommission. Von seinem Fenster des Brüsseler Berlaymont-Gebäudes hatte er einen Blick auf die Wetstraat und das Justus-Lipsius-Gebäude des Europäischen Rats. Mit welcher Verachtung und welchem Hass er auf die andere Straßenseite sah! Bei der Europäischen Kommission tun sie so viel, um Europa aufzubauen, doch stoßen sie auch andauernd auf den Widerstand der nationalen Interessenvertreter im Europäischen Rat!“

Zwischen März 2010 und Ende 2012 reiste der österreichische Schriftsteller Robert Menasse zwischen Wien und dem administrativen Zentrum Europas, Brüssel, hin und her. Sein Plan war, Recherchen für einen Roman zu machen, der sich in Brüssels Bürokratie abspielen sollte. „Ich war gerade dort, als die Griechenlandkrise ausbrach. Von einem normalen Alltagsleben konnte keine Rede mehr sein. Alle sprachen nur noch von der Krise.“

Fünf Brüsseler Überraschungen

Menasse machte aus der Not eine Tugend und vertiefte sich in die Krise. „Ich wurde mehr und mehr in die Diskussionen verstrickt und merkte, dass sich meine Vision von Europa grundlegend veränderte.“ Anstatt des geplanten Romans schrieb Menasse einen glühenden Essay über Europa, Der Europäische Landbote.

Auch in Menasses eigenem Umfeld — sagen wir mal, im leuchtenden Wien — nahm der Euroskeptizismus allmählich zu. „Die in Brüssel“ sind schuld, dass wir fleißige Österreicher tief in die Tasche greifen müssen. Auf einer Terrasse mitten in Wiens angesagtem Bezirk Leopoldstadt, erzählt Menasse, wie ihn sein Aufenthalt vor Ort von jedem Anflug von Skepsis über das Geld verschlingende Brüssel befreit hat.

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Im „Europäischen Landboten“ beschreibt er fünf Überraschungen, die er in Brüssel antraf. Erste Überraschung: „Die Europäische Kommission ist eine offene und transparente Institution. Zweite Überraschung: Die Brüsseler Bürokratie ist extrem schlank. Dritte Überraschung: Die Brüsseler Bürokratie ist äußerst sparsam und bescheiden. Vierte Überraschung: Die Brüsseler Bürokratie ist unglaublich preisgünstig. Fünfte Überraschung: Die Beamten haben Lust an der Arbeit.“

Euroländer sind ein Hindernis für ein erfolgreiches Europa

„Was ich gelernt habe: Brüssel ist keine Stadt. Es ist ein Patchwork aus 19 Gemeinden, die sich irgendwie einig werden müssen. So gesehen ist es ein Labor für Europa. Darüber hinaus ist die Stadt mehrsprachig, kleinbürgerlich und ungezwungen, nicht so protzig und aufgeblasen wie die große Schwester Paris. Es ist eine Stadt ohne Image, ohne ein eindeutiges Bild von sich selbst, das man in die Welt entsendet.“

Damit sind wir beim Kern seiner Argumentation im „Europäischen Landboten“. Das größte Hindernis auf dem Weg zu einem erfolgreichen Europa sind die Euroländer. „Die Staats- und Regierungschefs machen ihrer Bevölkerung glauben, dass sie im Europäischen Rat nationale Interessen verteidigen, dabei verteidigen sie nur die Interessen von ein paar wirtschaftlichen Eliten und treiben die Kosten für die Bürger in die Höhe.“

“Die Interessen der Bürger werden verschleudert“

Beispiel? Die Einführung des Euro, der ersten transnationalen Währung in der Geschichte. Die Währung erfordert eine gemeinsame Finanzpolitik. Doch die Briten wollen nicht, dass sich Brüssel in den Finanzmarkt der Londoner City einmischt. Und die Deutschen wollen nicht aus Furcht, dass ein nichtdeutscher EZB-Chef Geld drucken wird. Das Drucken von Geld führt zu Inflation und Inflation zu Hitler“.

„Das ist das Paradox.“ Menasse’ Stimme überschlägt sich. „Sie sagen, dass sie nationale Interessen verteidigen, und in der Zwischenzeit verschleudern sie die Interessen der Bürger. Gerade wegen Merkels Verteidigungspolitik [nationaler Interessen] müssen die Deutschen heute unsagbar mehr zahlen, doch anstatt wütend auf Merkel zu sein, wird man sie wieder wählen, weil sie ja die nationalen Interessen verteidigt. Das ist vollkommen irrational.“

„Bankenaufsicht vor drei Jahren undenkbar“

Für Menasse sind das alles Nachhutgefechte. Die Nationalstaaten verlieren immer mehr an Bedeutung. „Deshalb bezeichne ich mich als einen Fan der Krise. Ein einfaches Beispiel: die Bankenaufsicht. Vor drei Jahren noch undenkbar, alle Regierungschefs waren dagegen. Die Krise sorgt nun dafür, dass sie doch kommt. Nein, ich sage nicht, dass die Krise ein Segen ist, aber mit der Krise steigt der Druck, dass man endlich vernünftige Entscheidungen trifft.“

Und was ist die Alternative? Ein großes europäisches Reich, ähnlich dem Habsburger Kaiserreich? Eine vielfältige Föderation wie einst Jugoslawien? „Eher Letzteres. Ein Europa der Regionen. Ich sehe ein postnationales Europa vor mir, was die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Regionen die wichtigsten administrativen Einheiten werden. Man bedenke: Nationen sind vom Wesen her aggressiv, Regionen nicht. Regionen führen keine Kriege, um ihr Gebiet zu vergrößern.“

Regionen haben natürliche Grenzen

Ein Beispiel? „Kein Baske interessiert sich für ein baskisches Gebiet, in dem keine Basken leben. Regionen haben natürliche Grenzen, die oftmals Staatsgrenzen überschreiten. Ich als gebürtiger Wiener fühle mich näher verbunden mit Städten wie Sopron in Ungarn oder Bratislava in der Slowakei als mit Tirol. Ich kann die Menschen in Tirol nicht einmal verstehen! Für Demokratie brauchen Sie eine gemeinschaftliche Basis, um gemeinsam Entscheidungen treffen zu können.“

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