Nachrichten Zehn Stimmen zu Europa | 8

Im Verhandlungsparadies

Verhandeln, das ist eine der Grundideen der EU: sich gemeinsam an einen Tisch setzen und miteinander sprechen im gegenseitigen Respekt und mit Stil. Da ist es auch nicht entscheidend, dass sich die Welt oft schneller dreht, als Entscheidungen in Brüssel getroffen werden, meint der rumänische Historiker Mircea Vasilescu.

Veröffentlicht am 31 Dezember 2010 um 08:00

Im Laufe der Zeit hat die Europäische Union einen beeindruckenden Mechanismus für Verhandlungen geschaffen. Die aufeinanderfolgenden Erweiterungsrunden – aber vor allem die Integration der Länder aus Mittel- und Osteuropa – haben diesen Mechanismus bis aufs Äußerste verfeinert.

Es ist keine geringe Leistung, politischen Stolz, historische Frustrationen, wirtschaftliche Bestrebungen und reelle Schwächen so vieler Länder, die sich über hunderte von Jahren stets bekriegt haben, auf einen gemeinsamen, oder auf einen zumindest akzeptablen Nenner zu bringen. Diese Leistung ist nicht nur politisch zu verstehen, sondern vor allem kulturell und zivilisatorisch. Europa hat eine subtile Stilistik der Verhandlungen erreicht, was in einer unruhigen und unvorhersehbaren Welt wie der heutigen, durchaus zu begrüßen ist. Und darauf beruht meiner Meinung nach auch einer der großen Erfolge des europäischen Projektes.

„Wir haben keine Lösung, aber schön, dass wir verhandelt haben“

Dies aber birgt das Risiko, dass Europa in seiner Entscheidungsfindung gelähmt wird, weil es so fasziniert ist vom selbst geschaffenen Paradies der Verhandlungen. Es läuft Gefahr, dass die Verhandlungen zum Selbstzweck verkommen, getreu dem Motto: „wir haben zwar keine Lösung gefunden und das Problem auf 2013 vertagt – aber schön, dass wir verhandelt haben!“

Heute muss sich die Europäische Union mit Ländern messen, die schnell und leicht Entscheidungen „auf höchster Ebene“ treffen und diese auch umsetzen – China zum Beispiel. Es muss sich mit Ländern messen, wo die Demokratie zwar nicht perfekt ist, hingegen aber die demographische Entwicklung und der wirtschaftliche Enthusiasmus viel stärker ausgeprägt sind – beispielsweise in Indien und Brasilien. Europa läuft – nach Ansicht einiger Politikwissenschaftler – Gefahr, den „Schutzschirm“ der USA im Namen des „Multilateralismus“ zu verlieren.

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Die EU wird keine große Weltmacht werden

Deshalb ist die EU auch noch keine große Weltmacht und wird es meiner Ansicht nach auch nicht werden können. Die Benennung eines Präsidenten und eines Außenministers der EU ist dann auch schon das ganze Ergebnis der langwierigen Verhandlungen. Die Personen in diesen Ämtern – absolut respektable und fähige Persönlichkeiten – werden nur kritisiert, weil sie zu „low profile“ seien. Einige böswillige Stimmen gehen sogar so weit zu sagen, dass die Wahl dieser Vertreter Absicht gewesen sei, um die nationalen Führungspersönlichkeiten nicht in den Schatten zu stellen...

Daher denke ich, dass sich die Europäische Union heute in einem Riesendilemma befindet. Einerseits muss sie den komplizierten Verhandlungsmechanismus beibehalten, schließlich hat er ihren Erfolg bewirkt. Die EU darf auch nicht auf das Prinzip der „kulturellen Unterschiede“ verzichten, das darauf fußt, eine Vielzahl nationaler und lokaler Identitäten in einer europäischen (die noch Zukunftsmusik ist) zu vereinen. Anderseits muss sie ein wichtiger Akteur im weltweiten Wettbewerb werden – sie muss also schnelle Entscheidungen treffen und „mit einer einzigen Stimme sprechen“.

Die Einheitswährung war ein Segen

Wie kann man aber Entscheidungen leichter und pragmatischer fällen? Die Krise hat deutlich gezeigt, dass dies geht. Die Einheitswährung des Euro war ein wirklicher Segen und die Europäische Zentralbank hat richtig gehandelt. Sicherlich, es gibt vereinzelt Stimmen, die über den Ausstieg (oder das Ausgeschlossenwerden) einiger Länder aus der Eurozone sprechen, worüber man durchaus diskutieren oder verhandeln könnte. Das Problem ist schwerwiegend. Aber ohne den Euro, glaube ich, wäre es noch schwieriger geworden: wie viele ehemalige nationale Währungen hätten der Krise widerstehen können?

Wie mit einer einzigen Stimme sprechen? Hier wird die Lage kompliziert. Die nationalen Entscheidungsträger müssen in ihren Heimatländern auf Stimmenfang gehen, deshalb werden sie immer mit zwei Zungen sprechen. Einerseits werden sie über das europäische Aufbauwerk sprechen und anderseits werden sie (vor allem zu Wahlzeiten) die nationalen Interessen in den Vordergrund stellen. Eventuell – wie schon oft geschehen – vor allem dann, wenn zu Hause gerade etwas schief läuft und man dafür die „Brüsseler Bürokratie“ verantwortlich machen kann.

So wie ich die gegenwärtige Situation betrachte, wird es nicht nur mehrere (und oft gegenteilige) Stimmen geben, sondern diese werden auch manchmal gegen die Solisten der EU ansingen, die eigentlich der Präsident des Rates und die Hohe Vertreterin für Außenpolitik [Herman Van Rompuy und Catherine Ashton] sein sollten. Übrigens haben die beiden hohen Amtsträger, die infolge des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags benannt wurden, die Aufgabe, ihren Funktionen eine Identität zu geben und Inhalte zu liefern. Aber erst diejenigen, die nach ihnen folgen werden, werden die Chance haben, die internationale Ausrichtung der EU Politik in der Welt bekannt zu machen und in einem größeren Konzert mitzuspielen.

Dann wird es aber womöglich zu spät sein, vielleicht wird die Dynamik der Globalisierung Europa auch in den Hintergrund gedrängt haben. Es kann auch sein, dass wir es noch bereuen werden, Entscheidungen nicht schnell und entschlossen gefällt zu haben. Aber das ist der Preis dafür, dass wir ein Grundelement für die Substanz, die Eleganz und die Schönheit des europäischen Projektes beibehalten möchten: nämlich die Fähigkeit, zu verhandeln, verschiedene Interessen unter einen Hut zu bringen und die kulturellen- und Identitätsunterschiede bis zum Letzten zu achten.

Die EU, für immer eine „Soft power“?

Vielleicht wird die EU für immer als „Soft power“ wahrgenommen werden, aber ihre Stärke gründet vor allem auf den Werten Kultur und Zivilisation, Atmosphäre und Stil. Und damit meine ich nicht nur das kulturelle Erbe an sich, es geht nicht um den Bestand an Kunstwerken, Architektur, Musik oder Literatur.

Es geht vor allem um die Ideen, welche die Grundlage der europäischen Welt darstellen und die den Rest der Welt beeinflusst haben. Dazu zählt auch die Kultur des Zusammenlebens: die Bürger eines Kontinents mit einer konfliktreichen Geschichte haben heute gelernt, in den Dialog zu treten und in Toleranz zu leben.

Europa mag zwar noch keine globale Macht sein. Aber wenn wir die ethnische Vielfalt in Europa betrachten (hierzu zählen auch die Einwanderer aus der ganzen Welt), dann ist die EU an sich schon eine Metapher für die Globalisierung.

Aus dem Rumänischen von Ramona Binder

In Zusammenarbeit mit Spiegel-Online

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