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In Europa verkümmert der Kampf gegen die Armut

Mit dem europäischen Sozialmodell geht es bergab: Die von den Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den letzten Jahren gewährten Sozialtransfers haben immer weniger zur Armutsbekämpfung beigetragen.

Veröffentlicht am 5 Dezember 2018 um 10:05

Das europäische Sozialmodell steckt in Schwierigkeiten. In den letzten Jahren hatten die von den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) gewährten Sozialtransfers immer geringere Auswirkungen auf die Armutsbekämpfung. Das geht aus den kürzlich von Eurostat veröffentlichten Daten hervor. Während die Sozialleistungen den Anteil der Armen in der EU im Jahr 2010 um 36,8 Prozent verringerten, sank dieser Effekt im Jahr 2017 auf 32,4 Prozent. In Portugal und den Niederlanden ist dieser Rückgang ziemlich spektakulär (-9,7 Punkte bzw. -11,5 Punkte).

In Frankreich haben sich die positiven Auswirkungen der Sozialleistungen auf die Armut deutlich weniger verschlechtert (1,8 Punkte weniger zwischen 2010 und 2017, und dieser Rückgang konzentriert sich insbesondere auf die Jahre 2010 und 2011). Seit 2012 steigt dieser Indikator wieder an. In Deutschland hat sich der Rückgang geradliniger entwickelt (-2,3 Punkte). Und selbst in den nordischen Ländern wie Schweden oder Dänemark, die für ihr schützendes Sozialmodell bekannt sind, ist der Rückgang deutlich spürbar. Eine Ausnahme gibt es allerdings: Finnland.

„Nach der Krise von 2008 haben viele europäische Länder die öffentlichen Ausgaben gekürzt", erklärt Pierre Madec, Ökonom bei der französischen Beobachtungsstelle der Wirtschaftssituation (Observatoire français des conjonctures économiques, kurz: OFCE). „Die Mittel des Sozialtransfers sind demnach geschrumpft, was die positiven Auswirkungen auf das Ausmaß der Armut automatisch abgeschwächt hat.“ Besonders kompliziert ist die Situation für südliche Länder wie Portugal, wo die Transfers die Armutsquote nur um ein Viertel senken, während die Niederlande es schaffen, sie um fast zwei Fünftel (39,7 Prozent) zu reduzieren.

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Kontrastreiche Situationen

„Neben der Wirksamkeit der Sozialleistungen geht es auch darum, nach den Sozialtransfers eine niedrige Armutsquote zu erreichen“, erinnert Pierre Concialdi, Forscher am Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung (Institut de recherches économiques et sociales, kurz: IRES). „Zwar haben einige Länder die Wirksamkeit ihrer Sozialleistungen verloren, dennoch beobachteten sie, dass ihre Armutsquote nach den Sozialtransfers auf einem niedrigen Niveau geblieben ist.“ Dies ist der Fall in Frankreich, wo die Quote mit 13,3 Prozent im Jahr 2017 relativ niedrig blieb, verglichen mit durchschnittlichen 16,9 Prozent in der Europäischen Union. Andererseits haben Griechenland und Italien die Effizienz ihrer Sozialtransfers verbessert, was jedoch nichts daran ändert, dass mehr als ein Fünftel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt.

Darüber hinaus erlauben die von Eurostat veröffentlichten Zahlen nicht, die Auswirkungen von Sozialtransfers auf die Armutsintensität zu messen. „Die vom Statistischen Amt verwendete Armutsgrenze liegt bei 60 Prozent des Medianeinkommens“, betont Pierre Madec. „Eine Senkung der Armutsquote kann daher bedeuten, dass Sozialtransfers auf Bevölkerungsgruppen nahe dieses Schwellenwertes abgezielt haben. Um die Auswirkungen auf die Bevölkerungsschichten in Situationen extremer Armut zu messen, muss ein Grenzwert von 40 Prozent des Medianeinkommens angelegt werden.“ Auf diese Weise ist es Frankreich gelungen, seine Armutsquote leicht auf 40 Prozent des Medianeinkommens zu senken: Von 3,7 Prozent im Jahr 2010 auf 3,1 Prozent im Jahr 2017. Umgekehrt verzeichneten Griechenland und Italien eine Verschlechterung dieser Rate, die für Griechenland von 7,3 Prozent im Jahr 2010 auf 9,3 Prozent im Jahr 2017 und für Italien von 7,3 Prozent auf 8,8 Prozent stieg.

Diese Zahlen liegen etwas mehr als ein Jahr vor, bevor die Europäische Union eine Bilanz einer Reihe quantitativer Ziele zieht, die sie sich im Rahmen der Strategie Europa 2020 gesetzt hat. Diese betreffen fünf Bereiche: Beschäftigung, Forschung und Entwicklung, Klimawandel und Energie, Bildung und ebenfalls Armut und soziale Ausgrenzung. In diesem letztgenannten Bereich war es das Ziel, die Zahl der Menschen, die von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen oder gefährdet sind, zwischen 2008 und 2020 um mindestens 20 Millionen zu verringern. Allerdings hat sich diese Zahl von 116,07 Millionen Menschen im Jahr 2008 auf...... 116,88 Millionen im Jahr 2016 erhöht. Während alle anderen angestrebten Ziele höchstwahrscheinlich erreicht werden, hat sich dieses sogar verschlechtert.

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