Im krassen Gegensatz zu der fast einhelligen Haltung der EU zur Ukraine haben Israels Aktionen im Gazastreifen die europäische Politik und öffentliche Meinung so stark gespalten wie nur wenige andere Themen, bemerkt Pablo de la Serna in der spanischen Zeitung Público. Die Suche nach einem gemeinsamen Standpunkt bleibt schwierig.
Israel hat Anfang Mai eine neue Phase seiner Gaza-Kampagne eingeleitet, die den Namen „Gideons Wagen“ trägt - eine biblische Anspielung, die Bände spricht, meint der spanische Schriftsteller und Journalist Jordi Amat in El País. Der Name erinnert an die Geschichte aus dem Buch der Richter, in der Gideon mit göttlichem Beistand die zahlenmäßig überlegenen Feinde besiegte, was deren Flucht und Vertreibung zur Folge hatte.
Diese Kampagne ist zwar offiziell gegen die Hamas gerichtet, aber einige israelische Minister*innen haben das eigentliche Ziel der Operation verraten: die Vertreibung der Palästinenser*innen, behauptet Amat. Nachdem die israelischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung zur Evakuierung aufgefordert hatten, begannen sie mit der Bombardierung von Geflüchtetenlagern und erklärten, die eroberten Gebiete würden unter ihrer Kontrolle bleiben. Amat behauptet, dass die daraus resultierende Hungersnot unter den Kindern den Gazastreifen in eine unbewohnbare Hölle verwandeln und die Vertreibung der Zivilbevölkerung beschleunigen soll.
Als Reaktion auf Israels jüngste Offensive hat die Hohe Vertreterin der EU für Außenpolitik, Kaja Kallas, eine Überprüfung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel eingeleitet. Dieses Abkommen aus dem Jahr 2000 schafft einen Rahmen für die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit, einschließlich einer Freihandelszone. Die Überprüfung wird sich auf Artikel 2 konzentrieren, in dem festgelegt ist, dass die Beziehungen zwischen den Parteien auf der Achtung der Menschenrechte und der Grundsätze der Demokratie beruhen müssen.
Nord-Süd-Spaltung
Wie Marta Gallardo in La Razón anmerkt, würde eine Aussetzung des Abkommens Israel einen erheblichen wirtschaftlichen Schlag versetzen, da die EU sein wichtigster Handelspartner ist. Der Handel zwischen den beiden Ländern erreichte im Jahr 2024 ein Volumen von fast 43 Milliarden Euro. Ein solcher Schritt könnte sich auch auf Forschungs- und Innovationsprojekte der EU auswirken, an denen israelische akademische Einrichtungen und Unternehmen beteiligt sind. Die Initiative hat jedoch nur die Unterstützung von höchstens 17 Mitgliedstaaten erhalten.
Die lauteste Kritik an Israels brutaler Kampagne in Gaza kam stets aus Spanien. Wie Miguel Gonzáles in El País schreibt, setzt sich Madrid für eine internationale Koalition ein, um die Blockade des Gazastreifens zu beenden und Sanktionen gegen Israel zu verhängen. Der spanische Außenminister José Manuel Albares, der die Situation in Gaza als „offene Wunde der Menschheit“ bezeichnet hat, fordert die vollständige Aussetzung des EU-Abkommens, ein Waffenembargo und individuelle Sanktionen – wobei er ausdrücklich nicht ausschließt, dass Netanjahu selbst betroffen ist.
Ein auffälliges Nord-Süd-Gefälle kennzeichnet die europäische Haltung zum Israel-Gaza-Konflikt, berichtet Pablo de la Serna in Público. Während 71 % der Spanier*innen und 43 % der Italiener*innen das Vorgehen Israels als „Völkermord“ bezeichnen, stimmt nur ein Drittel der französischen und deutschen Befragten dem zu. Deutschland ist das einzige pro-israelisch eingestellte Land – nur hier ist die Antipathie gegenüber Palästina größer als die gegenüber Israel. Die von de la Serna befragten Expertinnen und Experten führen dies auf das durch den Holocaust „beschädigte Gewissen“ in den nördlichen Ländern, die Beziehungen Südeuropas zur arabischen Welt und die unterschiedlichen geopolitischen Prioritäten zurück.
Tschechische Diplomatie aus dem Tritt geraten
Die vielleicht beste Illustration dieser Polarisierung innerhalb der EU ist die Haltung und Debatte in der Tschechischen Republik, die zu einem Zeitpunkt, an dem selbst Israels treueste Verbündete Sanktionen in Erwägung ziehen, als erstes Mitglied der Siebenundzwanzig ihre Botschaft nach Jerusalem verlegen will.
Die geplante Senatsanhörung zur Verlegung der tschechischen Botschaft nach Jerusalem, an der auch Ministerpräsident Petr Fiala (ODS, rechts) teilnimmt, stellt laut Kommentator Oliver Adámek der Wochenzeitschrift Reflex „eine entschlossene Unterstützung für eine extremistische Regierung mit offenen Unterstützenden des Terrorismus dar, von der sich der Rest der Welt zu Recht distanziert“. Fiala und Orbán, so Adámek, seien die letzten Stimmen der israelischen Radikalen in Europa, wobei „die tschechische Diplomatie gegen eine Wand gefahren ist, aber weiterläuft“.
Wie Iveta Křížová auf der Plattform Seznam Zprávy schreibt, wird die Verlegung der tschechischen Botschaft in das besetzte Jerusalem nicht nur von der derzeitigen liberal-konservativen Koalitionsregierung unterstützt, sondern auch vom wahrscheinlichen Gewinner der Wahlen im Oktober, der populistischen ANO von Andrej Babiš, und der rechtsextremen SPD.
Obwohl in der Tschechischen Republik eine zaghafte Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen aufkam, vertritt der öffentlich-rechtliche Sender Tschechisches Fernsehen weiterhin eine unkritische Haltung gegenüber Israel, schreibt Jolana Humpálová in einem Kommentar für Voxpot. Sie hebt die Äußerungen des Korrespondenten des tschechischen Fernsehens David Borek hervor, der während einer Live-Sendung feststellte, dass die Bilder aus Gaza eine gewisse „Fotogenität“ besitzen, die „weltweit die Herzen und Seelen berührt, während israelische Panzer die Herzen und Seelen der Menschen nicht berühren“.
Humpálová wirft Borek vor, die Situation mit der „absoluten Gewissheit“ zu erklären, „auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, während er den Palästinenserinnen und Palästinensern scheinbar vorwirft, „fast absichtlich fotogen“ zu sein. Saša Uhlová von der Tageszeitung Alarm schließt sich der Kritik an den Medien, insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen, an. Ihrer Meinung nach sind Journalistinnen und Journalisten, die die Öffentlichkeit nicht richtig informieren, neben Politikerinnen und Politikern, die die offizielle Position des Staates prägen, durch ihre bedingungslose Verteidigung Israels mitschuldig an dem Völkermord in Gaza.
Deutschlands blinder Fleck in Gaza
Auch Hanno Hauenstein kritisiert in einem pointierten Kommentar für den Deutschlandfunk die deutschen Medien für ihren Umgang mit der Situation in Gaza. Während internationale Sender wie die BBC, der Guardian und Al-Jazeera umfassend über die israelischen Angriffe und ihre Folgen berichteten, blieben die wichtigsten deutschen Nachrichtensendungen „auffällig still“, argumentiert er.
Wenn sie über die Krise berichten, verwenden sie oft eine passive Sprache, bieten bruchstückhafte Inhalte oder geben unkritisch Informationen aus israelischen Militärquellen weiter. Hauenstein charakterisiert diesen Stil der Berichterstattung als politisch und als Ausdruck von Unterdrückung. Die verständliche Sorge, zu kritisch über das Vorgehen Israels zu berichten, lähmt seiner Ansicht nach einen Großteil des deutschen Journalismus.
Er kritisiert, dass Deutschland, das sich seiner historischen Verantwortung rühmt, die Augen vor den Ereignissen in Gaza verschließt und Israels Krieg gerade dann unterstützt, wenn diese Verantwortung am nötigsten ist. Auch viele deutsche Redaktionen verschließen die Augen vor der Realität vor Ort, so Hanno Hauenstein, und zwingen deutsche Bürger*innen, die die Wahrheit über Gaza erfahren wollen, sich an ausländische Medien zu wenden.
In einem vernichtenden Kommentar im Spiegel prangert Juliane von Mittelstaedt die deutsche Haltung zum Gaza-Krieg als Komplizenschaft mit dem an, was sie als israelische Verstöße gegen das Völkerrecht bezeichnet. Während Israel humanitäre Hilfe blockiert, Zivilistinnen und Zivilisten bombardiert und die Entvölkerung und Besetzung des Gazastreifens plant, äußerte Außenminister Wadephul bei seinem Besuch in Jerusalem nur laue Kritik.
Deutschland hat neben Ungarn und Tschechien stärkere EU-Positionen blockiert und Waffenexporte kurzzeitig ausgesetzt, um sie später wieder zu bestätigen. Die bedingungslose Unterstützung von Bundeskanzler Merz für Netanjahu – bis hin zu Vorschlägen zur Umgehung eines Haftbefehls – ist ein eklatanter Verzicht auf Einflussnahme.
Berlins Rechtfertigung der „besonderen Verantwortung für die Existenz Israels“ sei falsch angewandt, argumentiert von Mittelstaedt, da sie für den Staat selbst und nicht für eine von den meisten Israelis abgelehnte Regierung gelten sollte.
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