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Der Calderone-Gletscher, Mai 2023. | Foto: ©Sergio Matalucci Calderone Glacier Gran Sasso Italy

Italien: Die Gletscherschmelze führt zum Untergang einer Gemeinde in den Abruzzen

Die Berge Europas leiden unter dem Klimawandel. Er wirkt sich auf die Gletscher aus, deren Schmelzen ein ökologisches, wasserwirtschaftliches, geologisches, aber auch soziales Problem darstellt. Der Fall der Berggemeinden Prati di Tivo und Pietracamela in den Abruzzen.

Veröffentlicht am 6 Juni 2023
Calderone Glacier Gran Sasso Italy Der Calderone-Gletscher, Mai 2023. | Foto: ©Sergio Matalucci
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Pietracamela (Teramo). Am Ende der Wintersaison wirkt der Ort in den südlichen Abruzzen wie ein Geisterdorf: ein einziger Hund bellt, ein paar Vorhänge bewegen sich hinter Fenstern mit Holzrahmen. Zwischen den beiden höchsten Gipfeln des Apennins knarrt der Gletscher, das Eis schmilzt und wird zu Wasser. Im Frühjahr kommt es häufig zu Lawinenabgängen, tausend Meter flussabwärts schwellen Sturzbäche an: Die Bewohner von Pietracamela sind mit den Problemen des Klimawandels konfrontiert.

Europas Gebirge erwärmen sich fast doppelt so schnell wie der Rest des Kontinents, was uns einen Blick in die Zukunft erlaubt: Wetterereignisse und ihre Folgen werden immer extremer sein. Die Schneefälle in den Bergen sind seltener oder extrem stark, die Wetterbedingungen ändern sich unerwartet, die Gletscher ziehen sich unweigerlich zurück – und mit ihnen die lokalen Gemeinschaften.

Die Lage des Dorfes, über dem sich das Gran-Sasso-Massiv, das höchste Gebirge Mittelitaliens, erhebt, ist dafür ein perfektes Beispiel. Die Zeit, in der Pietracamela ein mondänes Touristenziel mit drei Diskotheken und einer Pianobar war, ist heute Vergangenheit: Die Tankstelle führt noch die alte Währung (die Lira), und die vier Luxushotels sind im Winter geschlossen.


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Der Calderone, ein Gletscher im Gran-Sasso-Massiv, einer der südlichsten Europas, verliert seinen Status. Oder besser gesagt, er hat ihn technisch gesehen bereits verloren.

Zwischen 1999 und 2000 zerfiel er in zwei kleinere Teile, in der wissenschaftlichen Terminologie zwei „Gletschersysteme“. Dieser Prozess, durch den der Calderone zu einem „Gletschersystem“ herabgestuft wurde, verlief parallel zur Verkürzung der Skisaison.

Pietracamela, Mai 2023. Im Hintergrund der Corno Grande del Gran Sasso (2.912 m) und der Calderone-Gletscher. | Foto: ©Sergio Matalucci

Ältere Einwohner erinnern sich, dass man auf den Pisten von Prati di Tivo von November bis Mai Skifahren konnte, auf dem Gletscher sogar noch länger. Jetzt fällt der erste Schnee oft erst nach Neujahr. „In den letzten fünf bis zehn Jahren hat es im Winter kaum noch geschneit, dafür aber sehr häufig im April und Mai“, bestätigt Massimo Pecci, der Experte des italienischen Glaziologischen Komitees für den Calderone. Pecci, der auch Universitätsprofessor für Glaziologie und Nivologie ist, erklärt, dass die Situation in vielen der fast viertausend Berggemeinden Italiens ähnlich ist.

Die Skilifte sind derzeit nicht in Betrieb, und die Beschneiungsanlagen bleiben ungenutzt, auch wenn sie im Frühwinter nützlich sein könnten. Im Winter und im Frühjahr kommen nur noch Touristen, die sich für das Skitourengehen interessieren, das anstrengende Aufstiege erfordert und für die örtlichen Unternehmen weniger rentabel ist.

Erste mögliche Schlussfolgerung: Die Veränderung der Niederschläge ist der Hauptfaktor, der den Wintertourismus beeinträchtigt. In gewisser Weise ist diese Interpretation richtig: Pasquale Iannetti, mein Führer auf dem Gletscher, sagt, dass die Wanderung von Prati di Tivo nach Calderone normalerweise drei Stunden dauert, am 1. Mai aber fast zehn, weil „solche Schneeverhältnisse wie während des Aufstiegs noch nie da gewesen sind. Der Schnee machte das Vorankommen extrem schwierig“. Mit anderen Worten: es war gefährlich.

Gran Sasso Italien Pietracamela

Die Bedeutung und die Schwierigkeiten des Wintertourismus hervorzuheben, ist jedoch eine Vereinfachung. Die Realität ähnelt eher einem komplexen Teufelskreis: Da die Winteraktivitäten anspruchsvoller und kostspieliger zu planen sind, haben die Bergdörfer weniger stabile Einnahmen und ziehen somit eine geringere Zahl an Einwohnern an; die Unterstützung für neue öffentliche Investitionen, einschließlich der Infrastruktur, nimmt infolgedessen ab, und so weiter.

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