Analyse Geschlechtsspezifische Gewalt

Die Waisen des Femizids

Wenn eine Frau getötet wird, sind die unmittelbarsten Opfer ihre Kinder, die ein tiefes Trauma erleben. In Italien werden solche Kinder, die „aufgrund häuslicher Verbrechen“ verwaist sind, seit 2018 gesetzlich geschützt. Dieses bedeutsame Gesetz ist das erste seiner Art in Europa, lässt sich jedoch nicht leicht umsetzen.

Veröffentlicht am 24 Januar 2024 um 17:35

Am 28. November 2023 gestand Luigi Leonetti, 51 Jahre, den Mord an seiner Frau Vincenza Angrisano, 42 Jahre. Seine beiden Kinder im Alter von 6 und 11 Jahren hatten sich während der Tat im Haus aufgehalten. Sie wurden zunächst von einer örtlichen Hilfsinstitution aufgenommen und dann in die Obhut von Familienmitgliedern gegeben. Bei der Beerdigung von Vincenza Angrisano wurde ein Brief ihres Sohnes verlesen, in dem er sie als „die Person, die ich am meisten auf der Welt liebe“ bezeichnete.

Die Psychotherapeutin, Kriminologin und ehrenamtliche Mitarbeiterin der Vereinigung D.i.Re. (Donne in Rete Contro la Violenza – Frauen vereint gegen Gewalt) Anna Costanza Baldry bezeichnet die Kinder der Opfer als „besondere Waisen“. Es sind Waisen des Femizids: Kinder, deren Vater ihre Mutter getötet hat.

Baldry betont die mangelnde Anerkennung und Unterstützung der betroffenen Personen. Sowohl die Kinder der Femizidopfer als auch deren Pflegefamilien sind sich oft größtenteils selbst überlassen: „Was wird den Kindern gesagt? Inwiefern hilft der Staat? Und welche psychologische und wirtschaftliche Unterstützung erhalten die Erwachsenen, die ihr Zuhause für die Kinder öffnen? Werden sie überhaupt unterstützt [...]? Wie geht es den Waisen?“ Viele Fragen bleiben unbeantwortet, so die Psychologin.

Femizid-Waisen: Wer und wie viele sind sie?

Um zu verstehen, wie es den Waisen von Femizidopfern ergeht, muss man zunächst wissen, wer und wie viele sie sind. Doch diese Informationen sind aktuell nicht verfügbar. Noch immer gibt es in Italien weder genaue Zahlen über Femizide noch eine Datensammlung über die dadurch verwaisten Kinder.

Diese Mängel wurden bereits 2015 von Switch-off.eu aufgezeigt, einem europäischen Gemeinschaftsprojekt von D.i.Re. Anti-Gewalt-Zentren und Studiengruppen aus Italien, Litauen und Zypern. Das Projekt analysierte die in Italien verfügbaren Daten, um die Bedürfnisse der Femizid-Waisen zu ermitteln und Leitlinien für die Regierungen auszuarbeiten. Eine anschließende parlamentarische Kommission veröffentlichte 2021 einen Bericht über die Femizidfälle, die 2017 und 2018 in Italien erfasst wurden. Es wurden 169 Waisen identifiziert, von denen 39,6 Prozent minderjährig waren. 17,2 Prozent von ihnen haben die Tötung der Mutter miterlebt.

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Im November 2023 veröffentlichte die Initiative „A braccia aperte“ neue Daten. Die von der gemeinnützigen Organisation „Con i Bambini“ ins Leben gerufene Initiative hatte 2021 vier italienische Projekte ausgewählt, um Kinder von Femizidopfern zu unterstützen. 

In den zwei Jahren setzte die Initiative besonders die Erhebung und Analyse von Daten über Femizid-Waisen in den Fokus. Die Zahlen beziehen sich auf Kinder und junge Menschen, die in von „Con i Bambini“ (157) oder Partnerorganisationen (260) finanzierten Projekten betreut werden. Die Daten sind also nicht umfassend, da sie nur Personen berücksichtigen, denen von den Vereinigungen geholfen wurde oder zu denen eine dauerhafte Beziehung aufgebaut werden konnte. Dennoch sind die Ergebnisse ein wichtiger Anhaltspunkt zur Beschreibung der aktuellen Lage.

Interessante Ergebnisse sind u. a., dass in 36 Prozent der Fälle die Kinder bei dem Femizid anwesend waren; dass 65 Prozent der Familien trotz Anzeichen für Gewalttaten nicht von den Sozialdiensten betreut wurden und dass 95 Prozent der Waisenkinder die italienische Staatsbürgerschaft besaßen.

„Es gibt keine offiziellen Statistiken, und auch die Jugendgerichte erkennen und bekämpfen diese spezifischen Probleme nicht“, bemängelt Fedele Salvatore, Präsident der sozialen Kooperative Irene'95. Diese führt in Süditalien das Projekt Respiro durch, eines der vier oben genannten Projekte.

Salvatore erklärt, wie die Kooperative die Femizid-Waisen in ihrem Einsatzgebiet (Süditalien und Inseln) ausgemacht hat: „Wir haben sozusagen händisch ermittelt, indem wir einerseits Daten von Anti-Gewalt- Zentren bezüglich Femiziden nutzten und andererseits die Nachrichtenberichte der letzten 15 Jahre durchgingen. Wir konnten etwa 305 Waisenkinder unter 21 Jahren identifizieren und mit 220 von ihnen sprechen.“

Der Schutz durch das Gesetz

Die Hilfeleistungen dieser Vereinigungen sind nicht die einzige Unterstützung, die den Kindern von Femizidopfern zur Verfügung steht. 2018 wurde nämlich das Gesetz Nr. 4 verabschiedet, das finanziell abhängige Kinder – und auch Erwachsene – schützt, die „infolge häuslicher Verbrechen“ verwaist sind.

Konkret sieht das Gesetz vor: kostenlosen Rechtsbeistand, die Beschlagnahmung des Vermögens des Verdächtigen als Schmerzensgeld, vorläufiges Schmerzensgeld (50 Prozent der Gesamtsumme, kann bereits vor Schuldfeststellung gewährt werden), kostenlose psychologische Betreuung, das Recht auf Änderung des Nachnamens und den Zugang zu Stipendien und einer Berufsausbildung.

Es dauerte zwei Jahre, um die Maßnahmen mithilfe eines Durchführungsdekretes in die Tat umzusetzen. „Es ist ein gutes Gesetz, das erste seiner Art in Europa“, sagt Fedele Salvatore. „Aber wir erkennen langsam seine Grenzen, und es muss noch stark verbessert werden. Ein Großteil der Verantwortung wird noch immer auf den Schultern der Pflegefamilien abgeladen. Diese sind meist Großeltern, Onkel oder Tanten mütterlicherseits, manchmal aber auch väterlicherseits. Sie wissen nicht immer, auf welche Gelder und Hilfen sie Anspruch haben und wie sie diese beantragen können.“


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Die damit verbundenen Verfahren sind umständlich und zeitaufwändig. Für viele ist allein die Orientierung in der Gesetzgebung kompliziert. Zudem verfügen Pflegefamilien oft nicht über die finanziellen und emotionalen Voraussetzungen, um ein traumatisiertes Waisenkind aufzuziehen.

Das Gesetz sieht heute eine monatliche Beihilfe von 300 € pro aufgenommenem Kind vor, was jedoch  oftmals nicht ausreicht. Derweil kümmern sich die NGOs um die Unterstützung der betreuenden Personen, die oft nicht erkennen, wie wichtig ihr eigenes psychisches Wohlbefinden ist, besonders wenn ihre Aufmerksamkeit auch auf der finanziellen Notlage liegt.

Die Bedeutung der Vorbereitung

Jede Person, die mit Femizid-Waisen in Kontakt kommt, benötigt eine Schulung zum Thema Trauma, insbesondere auch Sozialarbeiter, Polizisten und Lehrer. Aus diesem Grund hat das Projekt Respiro Vorbereitungskurse für alle Fachleute entwickelt, die in verschiedenen Kontexten mit Kindern von Femizidopfern umgehen. Ihr Ansatz berücksichtigt sowohl das traumatische Ereignis selbst als auch die „miterlebte Gewalt“ im Allgemeinen. In der Praxis gehen dem Femizid nämlich fast immer Missbrauch und Misshandlung der Frauen voraus. Dies in jungem Alter mitzuerleben, kann Auswirkungen auf die körperliche und kognitive Entwicklung sowie auf das Verhalten und die Beziehungen der Person haben.

Vor allem die Erstkontakte der Waisenkinder müssen entsprechend geschult sein, dafür gibt es jedoch noch kein einheitliches Prozedere, das befolgt werden kann.

Salvatore erklärt: „Es gibt kein Interventionsverfahren, das festlegt, wer was tut oder wie die Personen ausgebildet sein sollen. Sind Minderjährige betroffen, werden laut Gesetz die Sozialdienste und das Jugendgericht eingeschaltet. Es gibt jedoch keine spezifische Richtlinie für die komplexe Problematik der Waisen eines Femizids. Stattdessen überlässt man es dem gesunden Menschenverstand derjenigen, die als Erste mit den Kindern zu tun haben. Doch das reicht nicht. Die Fachliteratur und unsere Erfahrung zeigen, dass die ersten Tage und Wochen entscheidend sind. Es ist essentiell zu wissen, wie man den Kindern die Nachricht auf die richtige Art und Weise und ohne Lügen vermitteln kann.“

Allein gelassene Waisen

Trotz seiner Schwächen stellt das Gesetz Nr. 4 zweifellos einen wichtigen Fortschritt dar, vor allem im Vergleich zu der rechtlichen und institutionellen Leere, in der sich die Waisen von Femiziden vor dem Durchführungsdekret 2020 befanden. Olga Granà wurde 1997 von ihrem Ex-Mann getötet, als ihr Sohn Giuseppe Delmonte 19 Jahre alt war: „Vom nächsten Tag an habe ich gearbeitet“, erinnert sich Giuseppe und erklärt, dass er alles allein machen musste und nur auf die Hilfe von Freunden der Familie zählen konnte. Er betont, dass sein Vater „seit seiner zweiten Inhaftierungswoche“ psychologisch betreut wurde, „und dann 26 Jahre lang jede Woche. Ich konnte mir das erst vor vier Jahren aus eigener Tasche leisten.“

„Unglaublich“, so beschreibt Fedele Salvatore die Situation, als er begann, im Rahmen des Projektes Respiro mit den Waisen von Femiziden der letzten 15 Jahre zu arbeiten. „Es gab Kinder, die nie von den Sozialdiensten kontaktiert worden waren oder nie eine Nachbetreuung erhalten hatten. Anderen wurde die Todesursache ihrer Mutter nach fünf oder sechs Jahren noch nicht richtig mitgeteilt.“

„Wir wissen, dass so viele dieser ‚besonderen Waisen‘ noch immer keinen Zugang zu den angebotenen Hilfen haben“, sagt Senatorin Valeria Valente, die von 2019 bis 2022 Vorsitzende der Kommission zur Untersuchung von Femiziden war. „Wir müssen alle zusammenarbeiten – Institutionen und die Zivilgesellschaft –, um diese kritischen Probleme zu überwinden.“ Valente zufolge sollte das Thema in das umfassendere Phänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt einbezogen werden: „Im Kampf gegen Gewalt an Frauen müssen wir zwangsläufig immer auch an die Waisen der Femizidopfer denken und an die Kinder, die Zeugen von Missbrauch und Gewalt in der Familie sind.“

👉 Originalartikel erschienen bei Valigia Blu

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