Data Coronavirus und psychische Gesundheit

Keine Behandlung von psychisch kranken Patienten während der COVID-19-Pandemie

COVID-19 hat die in mehreren europäischen Staaten bereits schwache psychische Gesundheitsfürsorge paralysiert. Während der ersten Welle fanden 75% aller psychiatrischen Behandlungen über Telemedizin statt, doch das funktioniert nicht für jeden.

Veröffentlicht am 3 Dezember 2020 um 09:02

Andrés Colao spricht aus eigener Erfahrung als Patient, der miterlebt hat, wie die COVID-19-Pandemie eine bereits schwache psychische Gesundheitsfürsorge gelähmt hat. Er ist Sprecher von AFESA, einer spanischen Wohltätigkeitsorganisation von Menschen mit psychischen Erkrankungen und deren Verwandten. Diejenigen, bei denen vor der Pandemie eine Erkrankung diagnostiziert worden war, sind sich selbst überlassen.

Jorge Daniel Castilla, der sich gerade der Behandlung einer psychischen Krankheit unterzog, sagt: „Ich hatte einige Anrufe seit März, das letzte Mal im Juni, um zu fragen, wie es mir geht. Meine Therapie hängt in der Luft.“

„Vor der Pandemie gab es bereits viele Menschen, die in ihrem Zuhause gefangen waren, gebunden an ihr Sofa, ihr Bett und ihre Gedanken“ | Andrés Colao, Sprecher für eine spanische Wohltätigkeitsorganisation, die sich mit psychischer Gesundheit befasst. | Marta Martín Heres

Die Krise war besonders schwierig für Menschen, die psychiatrische und psychologische Dienste brauchen. „Es gibt Patienten, die stark gelitten haben“, sagt Colao.

COVID-19 hat einen Tsunami in der psychischen Gesundheitsfürsorge ausgelöst. Während der ersten Welle erlitten 93% der von der WHO beobachteten Länder eine Lähmung einer oder mehrerer Institutionen für Patienten mit psychologischen oder neurologischen Erkrankungen oder mit Suchtmittelproblemen. Fast 40% aller teilnehmenden europäischen Staaten berichteten von verschlechterten Bedingungen: drei von vier Gesundheitsdiensten wurden eingestellt. „Je strenger der Lockdown, desto schlimmer die Auswirkungen“, sagt Marcin Rodzinka, Sprecher von Mental Health Europe, einem Netzwerk von Nutzern psychischer Gesundheitsdienste und Fachkräften. So geschah es z.B. in Spanien, dass die Gesundheitszentren für ambulante Patienten geschlossen wurden.

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„Es brach mir das Herz, als ein Freund hospitalisiert wurde und diese doppelte Isolierung durchmachen musste: ohne Besucher und ohne Anrufe“Montse Aguilera vor dem Hauptquartier der „Associació per la Salut Mental del Baix Llobregat Nord”, der Wohltätigkeitsorganisation, mit der sie zusammenarbeitet. | Hugo Fernández Alcaraz

In den ernstesten Fällen machten hospitalisierte Patienten noch dramatischere Erfahrungen, so Montse Aguilera, die für die Rechte von Menschen arbeitet, bei denen wie bei ihr eine psychische Erkrankung diagnostiziert wurde. Wer unter schweren psychischen Störungen leidet, sei in der Regel isolierter und gefährdeter, daher können Eingesperrtsein und soziale Isolierung negative Auswirkungen haben, sagt der Psychiater Armando D’Agostino vom ASST Santi Paolo e Carlo Krankenhaus in Mailand.

Auf Distanz und unregelmäßig 

Die COVID-19-Pandemie hat das Gesundheitssystem verändert, das für psychisch Erkrankte inbegriffen, und macht weiterhin Probleme. „Selbst ab Juni wurde die Zahl der Termine stark reduziert“, sagt Felice Iasevoli, eine Psychiaterin am Federico II Universitätskrankenhaus in Neapel.

Zusätzlich zu den Kürzungen bei den verfügbaren psychischen Gesundheitsdiensten sank der Bedarf nach Therapie bei Menschen mit psychischen Problemen. 

„Dieser Rückgang liegt am Lockdown und der Angst der Menschen: Entweder wollten sie nicht ins Krankenhaus kommen, oder sie konnten es nicht wegen Reiseeinschränkungen oder dem Lockdown“, sagt die kroatische Psychiaterin Martina Rojnic, Sprecherin der European Psychiatric Association (EPA), einer Fachgesellschaft.

So einen Fall erlebte Maria, eine Frau aus Bukarest, die aus Angst vor einer Stigmatisierung ihren echten Namen nicht preisgeben möchte. Als die Ausgangsbeschränkungen einsetzten, setzte sie ihre Therapie gegen Depression zunächst online fort. Angesichts der sinkenden Fallzahl im Sommer schlug ihr Therapeut vor, wieder zu persönlichen Besuchen zurückzukehren. „Selbst da war ich sehr verunsichert und hatte Angst davor, rauszugehen und infiziert zu werden“, sagt Maria. Nach dem Beginn der zweiten Welle kehrte sie zur online-Therapie zurück, um das Risiko einer Ansteckung zu minimieren.

„Es ist notwendig, eine kontinuierliche Betreuung zu organisieren, denn bei einer Unterbrechung besteht die Gefahr, dass eine Vielzahl von Patienten einen Rückfall erleiden“, sagt Rojnic.

Mancherorts griff man auf Telefonate oder Videoanrufe zurück. Laut den internen Zahlen der EPA fanden über 75% der Therapie-Sitzungen während der ersten Welle online statt, allerdings mit großen Unterschieden von Land zu Land.

„In manchen Ländern wurde online-Psychiatrie gar nicht angewendet“, sagt Rojnic, „so dass die Behandlung gänzlich unterbrochen wurde.“ „In anderen Ländern (z.B. in Südosteuropa) erreichte der Wechsel zur online-Therapie bis zu 50%. In Ländern, die bereits seit 30 Jahren diese Form der Therapie praktizieren, wie z.B. den skandinavischen, gelang der Wechsel vergleichsweise einfach“, sagt Rojnic. Laut einer 2015 vom „WHO Global Observatory for eHealth“ durchgeführten Studie, hatten zu der Zeit nur Finnland, die Niederlande und Schweden auf nationaler Ebene funktionierende Telepsychiatrieprogramme.

Andere Länder, wie Griechenland und Spanien, hatten Pilotprogramme zu psychiatrischer Fernbetreuung gestartet, während Kroatien, Italien und Litauen damals eher informelle Initiativen betrieben. „Digitale Konsultationen waren vor der Pandemie nie ein Schwerpunkt der Gesundheitspolitik gewesen“, sagt D’Agostino. Die Ausgangssperren haben dazu geführt, dass dies von einer Option unter vielen für manche Menschen zur einzigen wurde.

Auch wenn Folgegespräche per Telefon oder Video helfen können, fordern Experten für psychische Gesundheit eine „kontinuierliche Unterstützung“ für Menschen mit schwereren Problemen. Tatsächlich existierte dieses Problem auch schon vor Corona: Der Ressourcenmangel führte zu einer eingeschränkten psychischen Gesundheitsfürsorge. Laut Zahlen von Eurostat aus dem Jahr 2018, waren die Länder mit den meisten Psychiatern pro 100.000 Einwohner Deutschland (27,45), Griechenland (25,79) und die Niederlande (24,15). Polen (9,23), Bulgarien (10,31) und Spanien (10,93) hatten die wenigsten.

Ferntherapie ist kein Allheilmittel

Ressourcen für psychische Behandlungen waren schon vor der Pandemie knapp. Heute ist der Zugang noch schwieriger. Während Ferntherapie eine Option geworden ist, haben Patienten dazu unterschiedliche Meinungen. Für manche sind persönliche Treffen sehr wichtig wegen des Augenkontaktes und des Vertrauens zwischen dem Behandelnden und dem Patienten. „Wenn du keine andere Wahl hast, machst du es, aber es ist nicht das Gleiche“, sagt die Patientin und Aktivistin Aguilera.

Andere finden Ferntherapie angenehmer als ein persönliches Gespräch, sagt Jorge Daniel Castilla, ein Patient, der für „La Muralla“ arbeitet, einer Wohltätigkeitsorganisation im Bereich der psychischen Gesundheit.

Für die Psychologin Marta Poll, Direktorin der Wohltätigkeitsorganisation „Salut Mental Catalunya“, zeigen Erfahrungen wie die von Castilla, dass Ferntherapie Menschen helfen kann, deren Mobilität eingeschränkt ist oder die Schwierigkeiten haben, im persönlichen Gespräch ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Jedoch bestehen noch andere Hindernisse, welche für manche Patienten den Zugang erschweren können, insbesondere bei alten Leuten und solchen, die keinen Zugang zur Technologie haben, sei es aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen.

„Manche Patienten hatten gar keinen Kontakt, da sie weder digitale Treffen arrangieren noch die Wohnung verlassen konnten. Sie fühlten sich besonders schlecht“, erklärt der Patient Jimmie Trevett, Sprecher für den Wohltätigkeitsverein „Swedish Association for Social and Mental Health“ (RSMH).

Gesundheitsexperten sagen, dass Telefonate und Videoanrufe hilfreich sein können, um Patienten, die bereits in Behandlung sind, weiter zu beobachten. Sie sind jedoch nicht immer wirksam. „[Sie] können problematisch sein für Neueinsteiger, die erst eine Beziehung zu ihrem Therapeuten aufbauen müssen“, sagt D’Agostino. Laut mehreren in den letzten Monaten veröffentlichten Studien, ist die Fernuntersuchung von Patienten eingeschränkter, obwohl mehrere Länder sich während der Pandemie für Ferntherapie entschieden haben.

„Ich konnte mich am Telefon viel mehr öffnen, als wenn ich den Therapeuten vor mir sitzen hatte.“ | Jorge Daniel Castilla in Tarragona (Spanien)| Hugo Fernández Alcaraz

Mancherorts hatten psychische Gesundheitsdienste einfallsreiche Ideen, wie beispielweise in Utrecht. „Noch während des Lockdowns wurde dort das Konzept „coffee to go“ eingeführt. Die Therapeuten treffen ihre Patienten draußen unter Einhaltung der nötigen Distanz und halten ihre Beratung im Gehen ab“, sagt Rodzinka, der Sprecher von „Mental Health Europe“.

Sorge um die Zukunft

Das Problem für den psychischen Gesundheitssektor besteht nicht nur darin, wie mit den bereits in Behandlung stehenden Patienten, sondern auch wie mit den neudiagnostizierten Fällen umzugehen ist.

„Die Folgen [der Pandemie] werden für viele Menschen verheerend sein. Viele von ihnen werden ruiniert, arbeits- und perspektivlos sein“, sagt Nel Zapico, Verwandter einer psychisch kranken Person und Präsident der Wohltätigkeitsorganisation „Confederación Salud Mental España“. Tatsächlich hatte Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Generaldirektor der WHO, bereits vor dieser Gefahr gewarnt. Ein Bericht über die psychologischen Folgen von vergangenen Quarantänen, z.B. bei den SARS-, MERS- und Ebola-Epidemien, zeigt erhöhte Stress- und Angstsymptome bei Menschen, die in Quarantäne waren. In etlichen europäischen Ländern scheint es mehr psychisches Leid und Sorge wegen der COVID-19-Pandemie zu geben.

Experten befürchten eine Welle von psychischen Gesundheitsproblemen. „Ich erwarte Angststörungen als Folge des Stresses und der Anspannung, mit denen ein jeder von uns im Moment konfrontiert ist: Depressionen als Folge von Ausgangssperren, Verlust von Angehörigen, wirtschaftlicher Schaden; Traumata als Folge von Schocksituationen, wie z.B. einer Hospitalisierung aufgrund von COVID-19, sei es der eigenen oder der eines Angehörigen“, sagt die Psychiaterin Iasevoli. Sie sieht ebenfalls „erhöhten „Medikamentenmissbrauch und die Verschärfung psychotischer Symptome bei den am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen“ kommen. Die Liste endet hier nicht: „Hohe Raten von Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) werden auch für COVID-19-Überlebende mit längeren Krankenhausaufenthalten oder mit mangelnder Unterstützung zu Hause vorausgesagt“, sagt D’Agostino.

Gesundheitspersonal, das an vorderster Front arbeitet, wie z.B. medizinisches und Pflegepersonal, kann ebenfalls an psychischen Problemen leiden. „Es gibt später ein höheres Niveau an Burnout und möglicherweise auch PTBS“, sagt Rojnic, Sprecherin der European Psychiatric Association. Das ist nicht bloß eine Prognose. Vorhergehende Epidemien, wie SARS und MERS, wirkten sich auf die psychische Gesundheit des betroffenen Gesundheitspersonals weltweit aus. Studien zu den Auswirkungen der ersten COVID-19-Welle in Ländern wie Spanien zeigen, dass die Mehrzahl des Personals an vorderster Front noch nicht die psychologische und psychiatrische Hilfe bekommen haben, die sie eigentlich benötigen.

Wer Angehörige verloren hat, leidet auch darunter, nicht in der Lage gewesen zu sein, sich angemessen zu verabschieden, sagt der Psychiater Roberto Mezzina, der vor seiner Pensionierung ein Spezialzentrum für psychische Gesundheit in Triest leitete. Er warnt: „Es schwebt noch immer eine große Menge Trauer in der Luft, die jeden Moment beträchtliche Auswirkungen auf die Gesellschaft haben kann.“

Der ungleiche Effekt des Lockdowns

Zu Hause bleiben war nicht besonders schwierig für Lurdes Lourenço, denn ihre Erkrankung hat mit dem Hinausgehen zu tun. Sie ist mit ihrer Erfahrung nicht allein: Viele Patienten litten nicht besonders unter der Ausgangssperre. „Ihre Bewegungsfreiheit war schon vorher teilweise eingeschränkt. Manche Patienten fühlten ihre Angststörung durch die Ausgangssperre sogar gelindert“, sagt die Psychiaterin Felice Iasevoli. Andere jedoch, wie z.B. Patienten, die unter einer Autismusspektrumstörung leiden, erlebten besonders viel Stress, da ihre Alltagsroutine durcheinanderkam und sie die spezialisierten Rehabilitationszentren nicht mehr aufsuchen konnten.


Methodologie

Daten in Bezug auf Psychiater in der Europäischen Union aus diesem Artikel finden Sie zum Download hier; Informationen über Telepsychiatrie können Sie hier herunterladen. Das Vereinigte Königreich ist darin enthalten, da die Informationen sich auf Daten stützen, die vor dem Brexit gesammelt wurden.

Informationen zur Verfügbarkeit von telepsychiatrischen Dienstleistungen wurden aus einer globalen Studie der WHO von 2015 bezogen. Im Fall von Estland war Ferntherapie sowohl international als auch national verfügbar, während sie in Finnland national und regional angeboten wurde. Laut Daten der WHO war die geographische Reichweite von Telepsychiatrie in Spanien regional, intermediär und lokal, wobei es sowohl etablierte als auch Pilotprogramme gab. In Schweden war die Reichweite national und intermediär, und auch dort gab es etablierte und Pilotprogramme. Keine Information ist verfügbar zu Österreich, Ungarn, Irland, Lettland, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien und der Slowakei.

Die Zahlen zu den Psychiatern pro Einwohner kommen von Eurostat: In den meisten Fällen stammen die Daten von 2018, außer bei Polen, Luxemburg und Schweden – diese stammen von 2017. Zu Finnland waren die Zahlen nicht mehr aktuell, und zur Slowakei hat Eurostat keine Daten; diese Länder sind daher nicht vertreten.

Die Informationen zu den Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheitsdienste wurden von der WHO im Jahr 2020 veröffentlicht. Die Daten zum psychischen Gesundheitswesen in Europa während der ersten COVID-19-Welle schließlich stammen aus einer internen Studie der EPA, die noch nicht offiziell publiziert wurde.

In Partnerschaft mit der European Data Journalism Network

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