Tamiflu Pille. Photo von Andrew Burrows

Kleine Gesinnung der großen Pharma

Während die Schweinegrippe sich weltweit ausbreitet, bereiten sich Entwicklungsländer darauf vor, billige Generika von Tamiflu herstellen. Produzent Roche verweigert jedoch, sich hier zu bewegen, und damit hunderttausende Leben zu retten. Laut Johann Hari im Independent findet das Unternehmen dabei ganz unvermutete Unterstützer – wie der Weltgesundheitsorganisation.

Veröffentlicht am 5 August 2009 um 17:53
Tamiflu Pille. Photo von Andrew Burrows

Hier ist die jüngste Episode einer der größten Skandale unserer Zeit. In den armen Ländern der Welt wollen Fabriken das lebensrettende Tamiflu unbedingt billiger herstellen, aber man sagt ihnen, dass sie genau das nicht tun sollen. Warum? Damit reiche Pharmaunternehmen ihre Patente – und ihren Profit – schützen können.

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Zum Verständnis beginnen wir mit einem ganz offensichtlichen Geheimnis. Die Weltgesundheitsorganisation warnt seit Monaten davor, dass die Schweinegrippe auch die ärmsten Teile der Welt erfassen könnte, und ihr dort Tausende von Menschen zum Opfer fallen könnten. Jedoch hat sie den Regierungen dieser armen Länder auch untersagt, so viel Tamiflu wie möglich produzieren, obwohl es momentan das einzige Medikament ist, über welches wir verfügen, um die Symptome zu reduzieren. Genau darum dreht es sich in einer viel größeren Story.

Profit mit Patenten

Seit Jahrzehnten schon befürworten unsere Regierungen ein seltsames System, welches Medikamente herstellt, um daraus einen großen Gewinn zu ziehen. Den größten Teil der Arbeiten, die dazu dienen, Medikamente herzustellen, die wir dann in der Apotheke kaufen, leisten Wissenschaftler in von Regierungen gegründeten Universitätslaboren, die von unseren Steuergeldern finanziert werden.

In diesem Prozess kommen Pharmaunternehmen für gewöhnlich erst sehr spät zum Zuge. Sie bezahlen dann die teilweise sehr kostspieligen, aber größtenteils alles andere als erfinderischen, letzten Arbeitsstufen, wie beispielsweise den Kauf von Chemikalien und die Durchführung der erforderlichen Versuche. Im Gegenzug erhalten sie das alleinige und ausschließliche Recht, die Medikamente herzustellen und von ihnen jahrelang zu profitieren.

Ihr Erfolg hat dabei oft tödliche Folgen. Pharmaunternehmen, welche die Patente für Aids-Medikamente besaßen, gingen vor Gericht, um die Regierung Südafrikas daran zu hindern, seine im Sterben liegenden Bewohner zu retten. Sie produzierten wirkstoffgleiche Kopien, die für 100 Dollar pro Jahr die gleiche Wirkung erzielten. Sie forderten 10.000 Dollar von ihnen, was dem Preis der Markenversion für ein Jahr entspricht. Die Öffentlichkeit war derart schockiert, dass man versuchte, ihnen mit globalen Handelsregelungen entgegenzukommen. Man einigte sich darauf, dass arme Länder wirkstoffgleiche Medikamente herstellen dürfen, wenn es sich um einen nicht zu bewältigenden Notfall handelt, bei dem die Gesundheit der gesamten Bevölkerung bedroht ist. Bei diesen wirkstoffgleichen Medikamenten handelt es sich um die exakt gleichen Produkte, nur dass sie nicht mit dem Markennamen bedruckt sind.

So sollte eigentlich auch die Lösung für die Schweinegrippe aussehen. Den neuen Regelungen entsprechend dürfen die armen Länder so viel wirkstoffgleiches Tamiflu herstellen, wie sie wollen. Verschiedene Unternehmen in Indien und China haben schon erklärt, dass sie dazu bereit sind. Aber Roche (das Unternehmen, welches das Patent besitzt) verlangt, dass man die mit einer Schutzmarke versehene Version kauft. Und die Weltgesundheitsorganisation scheint Roche dabei auch noch zu unterstützen. Die WHO, die eigentlich am Besten dazu in der Lage ist, einzuschätzen, wann es sich um einen Notfall in Sachen öffentlicher Gesundheit handelt, begründet die Verletzung der Patentrechte auch noch und meint, dass man die Gesetzeslücke keinesfalls ausnutzen darf.

Wenig Geld in Entwicklung

Wie wird wohl das Endergebnis aussehen? James Love der Knowledge Ecology International kämpft gerade gegen das aktuelle Patent-System und sagt, dass die "armen Länder nicht so gut vorbereitet sind, wie sie es hätten sein können. Wenn es wirklich zu einer Pandemie kommen sollte, wird die Zahl der Menschen, die sterben werden, viel grösser sein, als das sein müsste."

Big Pharma liefert dagegen ein Argument, welches genau dieses System rechtfertigen soll. Es ist ganz einfach und klingt zunächst einmal vernünftig: Wir müssen für "unsere" Medikamente erhebliche Beträge berechnen, um immer mehr lebensrettende Medikamente produzieren zu können. Jedoch hat die Studie von Dr. Marcia Angell, der ehemaligen Herausgeberin des New England Journal of Medicine gezeigt, dass nur 14 % ihrer Budgets in die Entwicklung neuer Medikamente investiert werden, und dies für gewöhnlich vor allem in die nicht sehr erfindungsreiche Endphase. Die restlichen Prozente investiert man ins Marketing, oder wandelt man ganz einfach in reinen Profit um. Und selbst von diesen 14 %, die in Medikamentenentwicklung investiert werden, verschleudern die Pharmaunternehmen ganze Reichtümer in die Entwicklung von "ich-auch"-Medikamenten, d. h. Arzneimittel, die genau die gleiche Wirkung haben, wie andere, die schon auf dem Markt existieren, und vielleicht ein anderes Molekül enthalten. So können sie nämlich ein neues Patent beantragen.

Wir alle leiden unter den Ergebnissen dieses Fehlfunktionierens. Die EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes schlussfolgerte kürzlich, dass die Europäer aufgrund dieses "verrotteten" Systems durchschnittlich etwa 40 % mehr für Ihre Medikamente bezahlen, als sie eigentlich müssten.

Doch warum halten wir dann so sehr daran fest, wenn es doch so schlecht ist? Weil Pharmaunternehmen allein in den Vereinigten Staaten von Amerika in den vergangenen zehn Jahren über drei Milliarden Dollar für ihre Lobbyisten und politischen "Beiträge" ausgegeben haben, um das System für Ihre Interessen arbeiten zu lassen.

Preisfonds brächte Medikamente für alle

Doch gibt es einen viel besseren Weg, Medikamente zu entwickeln. Der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Joseph Stiglitz, schlug erstmals eine neue Lösung vor: Die westlichen Regierungen sollten einen mit mehreren Milliarden ausgestatteten Preisfonds gründen, aus dem Wissenschaftler bezahlt werden sollten, die Heilmittel oder Impfstoffe entwickeln. Der höchste Preis sollte an denjenigen vergeben werden, der Mittel gegen die Krankheiten entwickelt hat, denen Millionen von Menschen zum Opfer fallen, wie beispielsweise Malaria. Sobald der Preis ausgezahlt ist, gehen die Rechte an diesen Medikamenten in die öffentliche Hand über, die frei über sie verfügen kann. Jedermann kann dann, egal an welchem Ort, diese Medikamente herstellen.

Der finanzielle Anreiz würde genau der gleiche sein, aber die ganze Menschheit könnte davon profitieren und das so absurde aktuelle System auf der ganzen Welt würde endlich ein Ende nehmen. Auch wenn es nicht billig wäre (es würde etwa 0,6 % des Bruttoinlandsproduktes kosten), so könnte ein solches Programm uns alle mittelfristig davor retten, ein Vermögen auszugeben, weil die Gesundheitssysteme nicht länger gigantische Prämien an Pharmaunternehmen zahlen müssten. In der Zwischenzeit würden die Kosten für Medikamente eine Bruchlandung erleben und Millionen von Menschen wären in der Lage, sich diese zum ersten Mal in ihrem Leben zu leisten.

Die Versuche, das aktuelle System zu verändern, scheitern allerdings an den Pharmaunternehmen und ihren Lobbyisten. Der Gedanke jedoch, medizinisches Wissen abzuschirmen, so dass einige wenige Leute von ihm profitieren können, ist wohl eine der größten Absurditäten unserer Zeit. Ein krankes System, welches wir niederreißen müssen. Nur dann können wir den Geist Jonas Salks, des Wissenschaftlers, der die Polio-Impfung erfunden hat, auf der ganzen Welt verwirklichen. Er lehnte es damals ab, sie zu patentieren und sagte ganz einfach: "Das wäre ja gerade so, als ob man sich die Sonne patentieren ließe".

Nebenwirkungen

Vorsicht vor Tamiflu-Behandlung bei Kindern?

"Muss man vor dem Anti-Grippe-Medikament Angst haben", fragt die Titelseite der belgischen Tageszeitung Le Soir. Einer so großen Beliebtheit erfreut Tamiflu sich vor allem, weil es noch immer keinen Impfstoff gibt und es momentan das einzige verfügbare Medikament gegen den H1N1-Virus ist. Wie alle anderen Medikamente, kann auch Tamiflu verschiedene Nebenwirkungen auslösen. "Eine Studie des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten(ECDC) hat gerade gezeigt, dass Tamiflu bei mehreren Kindern Nebenwirkungen ausgelöst hat. Man hatte Tamiflu gesunden Kindern einer Sekundarschule im Südwesten Englands vorsorglich verabreicht. Die auftretenden Nebenwirkungen seien keinesfalls zu unterschätzen", schreibt das belgische Blatt. Man beobachtete vor allem Müdigkeitserscheinungen, Konzentrationsmangel, Übelkeit und Erbrechen, sowie Durchfall. Die von Le Soir interviewte Leiterin der Abteilung für Infektionskrankheiten in einem Brüsseler Krankenhaus, Anne Malfroot, beunruhigt vor allem, dass man das antivirale Medikament allein als vorbeugende Maßnahme massenweise anwendet. Solange man über die Wirkungsweise von Tamiflu bei Kindern nicht genau Bescheid weiß, "dürfte man [es] vollkommen gesunden Kindern nicht verabreichen", empfiehlt sie.

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