Ideen Brief zur Demokratie | 3

Lieber Arnon, Meine europäische Identität beruht auf Liebe, der Ablehnung von Zynismus und dem Akzeptieren von Unterschieden

In ihrer Antwort auf den Brief des niederländischen Schriftstellers Arnon Grunberg erinnert die bosnisch-serbische Autorin Lana Bastašić an die Lehren ihrer kürzlich verstorbenen Freundin und Lieblingsschriftstellerin Dubravka Ugrešić. Sie erinnert sich an die Diskussionen während ihrer gemeinsamen Reisen durch Europa – über ihre komplexe jugoslawische Identität und die Schwierigkeiten, zu begreifen, was es bedeutet, Europäer*in zu sein.

Veröffentlicht am 31 Mai 2023 um 13:06

Lieber Arnon,

ich wollte eigentlich einen ganz anderen Brief schreiben, aber dann kam das Leben dazwischen. Oder der Tod. Eigentlich ist es ja dasselbe.

Ich saß in einer Berliner Buchhandlung, aß eine Zimtschnecke (das kann man jetzt in Buchhandlungen) und las bell hooks, als ich hörte, dass Dubravka Ugrešić gestorben war. Ich erfuhr es auf die denkbar schlechteste Art und Weise – über die sozialen Medien. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob es eine gute Art und Weise gibt, vom Tod einer Freundin zu erfahren. Ich bin zu viel unterwegs, als dass jemand, der mir nahe steht, auftaucht, mich ernst anschaut, meine Hand hält und sagt: „Ich habe eine schlechte Nachricht.“

In dieser Stadt gibt es keinen Menschen, den ich lange genug kenne, um ihn meine Hand halten zu lassen. Also saß ich einfach da mit meiner blöden Zimtschnecke, hielt ein Buch über die Liebe in der Hand und fühlte eine unbändige Wut.

Ich erinnerte mich daran, dass meine Schwester, die Psychologin ist, mich kürzlich überzeugt hatte, eine App herunterzuladen, die einem hilft, den richtigen Ausdruck für jedes Gefühl zu finden, während man es empfindet. Sie meinte, dass es für mich hilfreich sein könnte, meine Gefühle mit präzisen Worten zu beschreiben. Also öffnete ich die App und scrollte durch die Kategorie „energiegeladen unangenehm“. Wörter schwebten in roten und orangen Blasen über mein Display. Schockiert. Entsetzt. Überwältigt. Ängstlich.

Verängstigt. Wütend. Keines davon funktionierte. Ich brauchte ein einziges Wort für: „Meine jugoslawische Lieblingsautorin ist tot, und sie ist zufällig auch eine enge Freundin und das einzige weibliche Vorbild, das ich in meinem Beruf je hatte, und ich bin sauer auf sie, weil wir uns in zwei Monaten treffen wollten.“ Aber die Sprache ließ mich im Stich. Wieder einmal.


Eine Europäerin war ich nie, denn das wollte niemand. Alle wollten „die Bosnierin“


Dann schaute ich auf das Buch von bell hooks, das ich immer noch in der Hand hielt. Ich sah das Wort „Liebe“ in Kleinbuchstaben. Dubravka schrieb über die Liebe, über das Schreiben, um geliebt zu werden. Wenn ich Bauchschmerzen hatte, machte sie mir Pfefferminztee. Wenn Europa schmerzte, schrieb sie. Und da sie so viele Dinge auf einmal war und gleichzeitig keines davon (Jugoslawin, Kroatin, Niederländerin, Post-dies und Post-das, „Hexe“, Frau, Schriftstellerin), kam sie für mich der Definition dessen, was europäisch wirklich bedeutet, am nächsten.

Reine kroatische Luft

Ich hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zu geografisch bedingten Identitätskennzeichnungen. Mein erster Reisepass war ein jugoslawischer, und meine Mutter bewahrt ihn immer noch in einem alten Schuhkarton auf, zusammen mit einer getippten Liste mit Anweisungen für Eltern nach Tschernobyl. In Kroatien waren wir Serben und mussten wegen dem, was Dubravka selbst in ihren Aufsätzen als „reine kroatische Luft“ beschrieb, gehen. Ungefähr zu der Zeit, als sie von den anderen Universitätsprofessor*innen und Journalist*innen exkommuniziert wurde, weil sie sich gegen Nationalismus aussprach, ließen wir uns aus ungefähr denselben Gründen in Bosnien nieder. In Banja Luka war ich wegen meines Zagreber Akzents „das kroatische Mädchen“.

Mein Vater korrigierte mein Vokabular bei Tisch, als ob unsere heilige serbische Herkunft davon abhinge, dass ich das richtige Wort für den Löffel benutzte. Als ich Jahre später nach Belgrad zog, war ich plötzlich „das bosnische Mädchen“.

Mein alter Zagreber Akzent war längst verschwunden und durch abgehackte Krajina-Vokale ersetzt, auf die meine Universitätsprofessor*innen und viele Kolleg*innen herabblickten. Wo immer ich hinging, war ich jemand anderes, und die Sprache, die ich sprach, verriet meine Fremdheit. Als ich schließlich mit Mitte zwanzig nach Barcelona zog, sagte ich einfach „Jugoslawien“ , wenn mich jemand fragte, woher ich kam. Nicht aus Nostalgie, sondern weil ich einfach keine Lust hatte, jemandem einen 30-minütigen Vortrag über die Geschichte des Balkans zu halten. Aber „Europa“ habe ich nicht ein einziges Mal gesagt.


Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

In Spanien wurde mir schnell klar, dass ich alles andere als eine Europäerin war. Meine Freund*innen erzählten faszinierende Erasmus-Geschichten und wechselten das Thema, als ich zugab, dass es das Programm für bosnische Studierende nie gegeben hatte. Ihre europäische Identität war voller sinngeladener Wörter, mit denen ich nichts anfangen konnte, für die ich aber meine eigenen Definitionen fand. „Backpacking“ bedeutete, einen funktionierenden Reisepass zu haben.

„Millennial“ bedeutete, dass es in deinem Haushalt Strom gab. „Interrail“ bedeutete Hogwarts Express. Irgendwann lehnte ich eine Einladung zu einer Party mit dem Titel „Ich vermisse die Neunziger!“ ab und beschloss, Kopfschmerzen dafür verantwortlich zu machen, anstatt einen Haufen backpackender Millennials über ein Blutvergießen zu belehren, das in dieser Zeit in meinem Land stattgefunden hat.

Die Bosnierin in einer spanischen Buchhandlung

In meinen späten Zwanzigern war Europa nur eine Aneinanderreihung von Dingen, die ich hätte machen oder werden können, was mich verbittert und zynisch machte. Ich hätte einen besseren Hochschulabschluss haben können. Ich hätte die Welt sehen können. Ich hätte erwachsen werden können, um die neunziger Jahre zu vermissen. Und selbst wenn mir Europa auf eine unaussprechlich verdrießliche Art und Weise wichtig war, schien es mir, dass dieses Europa – weiß, christlich, wohlhabend – sich nicht viel aus mir machte.

Es wusste nichts von meiner Großmutter, die im Alter von vier Jahren einen Blitzschlag überlebte, Maria Callas und mexikanische Telenovelas liebte und aufgrund ihres muslimischen Namens eine schriftliche Erlaubnis mit sich führen musste, wenn sie auf den Markt gehen wollte. Von den Männern, die nach ihren Papieren fragten, waren einige in der örtlichen Grundschule ihre Schüler gewesen.


Und doch hat mich Dubravka gelehrt, dass die Verbitterung, die für uns „Post-Jugoslawen“ in Europa immer in gewissem Maße vorhanden sein wird, Schlachten gewinnen kann, aber niemals den Krieg. Schreiben ist Kommunikation, und Kommunikation ist Liebe, mit einem großen L


Dieses Europa war es, das mich bald dafür bezahlen würde, über den Krieg zu sprechen. Offensichtlich war das alles, was es hören wollte: grausame Geschichten. Ich war „die Bosnierin“, die in einem schicken Theater in Belgien über „die Folgen des Krieges“ zu den Menschen sprach, die 150 Jahre brauchten, um die Statue von König Leopold II. zu entfernen. Ich war „die Bosnierin“, die in einer spanischen Buchhandlung über „die Folgen des Krieges“ zu den Menschen sprach, deren Diktator nach der Wiederherstellung der Monarchie friedlich in seinem Bett gestorben war und noch immer schöne Blumen auf seinem Grab hatte. Ich war „die Bosnierin“, die im böhmischen Salon einer toskanischen Baronin saß und über „die Folgen des Krieges“ zu den Menschen sprach, die bald Giorgia Meloni die Macht über ihr Land überlassen würden. Eine Europäerin war ich nie, denn das wollte niemand. Alle wollten „die Bosnierin“.

Außerdem stellte ich bald fest, dass bosnische Geschichten am besten auf Deutsch oder Englisch erzählt werden. Bosnische Autor*innen, die traurige Kriegsgeschichten schrieben, waren sehr beliebt, solange sie in einer „großen Sprache“ schrieben. Im Idealfall sind sie im Ausland aufgewachsen. Im Idealfall hatten sie keinen Akzent. Ich sah, wie diese Autor*innen Preise gewannen, Stipendien erhielten und die Welt bereisten.

Und obwohl einige von ihnen wirklich außergewöhnliche Schriftsteller*innen sind und meiner Meinung nach ihren Ruhm und ihre Ehre durchaus verdient haben, verfolgten mich meine verpassten Möglichkeiten im Zusammenhang mit Europa schon bald wieder. Was wäre geschehen, wenn wir Kroatien in Richtung Großbritannien verlassen hätten? Oder Deutschland? Frankreich? Was wäre, wenn ich als backpackende Millennial auf einem Interrail-Trip zwischen Berlin und Prag traurige Kriegsgeschichten geschrieben hätte? Verbitterung ist eine schwer einzureißende Mauer, wenn sie aus einem Mangel an Privilegien entspringt.

Und doch hat mich Dubravka gelehrt, dass die Verbitterung, die für uns „Post-Jugoslawen“ in Europa immer in gewissem Maße vorhanden sein wird, Schlachten gewinnen kann, aber niemals den Krieg. Schreiben ist Kommunikation, und Kommunikation ist Liebe, mit einem großen L. Da gibt es weder Platz für Verbitterung noch für Zynismus. Sie hat mich gelehrt, dass Europa das bedeuten kann, was ich will, und dass es durch meinen persönlichen Definitionsprozess vielleicht wachsen und sich ausdehnen kann, um die „anderen“ aufzunehmen. Mit anderen Worten kann die Sprache dafür sorgen, dass man nicht mehr zu den „anderen“ zählt.

Ich habe meinen eigenen Sinn für die europäische Identität sehr spät entwickelt. Er baut auf einer europäischen Idee der Liebe als ultimative Waffe gegen Zynismus und dem grundsätzlichen Akzeptieren von Unterschieden auf, wie Alain Badiou es ausdrückte. Man kann den Wunsch haben, zu kommunizieren, Verbindungen herzustellen, auch wenn man mit zwanzig nicht das Privileg hatte, ein Interrail-Ticket zu bekommen. Schreibe, sagte mir Dubravka. Anstatt über das zu jammern, was du hättest werden können, setze dich hin und schreibe.

Entgegen all der feierlichen, vom Selbsthilfemarkt getriebenen Besessenheit von der eigenen Person – angeheizt durch leistungsstarke Algorithmen, die uns direkt zu maßgeschneiderten Produkten führen sollen – denke ich, dass uns Europa immer noch Platz lässt, um aus unserer Blase herauszukommen. Es gibt nach wie vor Platz dafür, sich am frühen Abend auf den Bürgersteig zu setzen und in schlechtem Deutsch mit der türkischen Frau zu reden, die gerade ihren Laden für den Tag schließt und nach Hause will, um eine Reality-Show zu sehen. Und ich finde, ihr Name klingt wie der meiner Oma. Und ich denke auch, dass Dubravka sie mögen würde.

Dieser Brief gehört zu den „Letters on Democracy“, einem Projekt im Rahmen des 4. Forum on European Culture, das im Juni 2023 in Amsterdam stattfindet. Das von De Balie organisierte Forum konzentriert sich auf die Bedeutung und die Zukunft der Demokratie in Europa und bringt Künstler, Aktivisten und Intellektuelle zusammen, um die Demokratie als Ausdruck der Kultur und nicht der Politik zu erkunden.
Im Rahmen der „Letters on Democracy“ entwerfen fünf Schriftsteller in einer Reihe von fünf Briefen, deren erster von Arnon Grunberg stammt, Visionen für die Zukunft Europas. Die Schriftsteller Arnon Grunberg, Drago Jančar, Lana Bastašić, Oksana Sabuschko und Kamel Daoud treffen sich während des Forums zu einem Gespräch über das Europa, das vor uns liegt, und die Rolle des Schriftstellers darin.

Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema