Interview Pride-Monat

LGBT+ in Ungarn: „Ich nehme zum ersten Mal an der Pride teil, denn dieses Jahr geht es um mehr”

Der Angriff auf die Demokratie in Ungarn geht weiter. Im März verabschiedete die Regierung ein Gesetz zur Einschränkung des Versammlungsrechts mit der ausdrücklichen Absicht, die Budapest Pride zu verbieten. Die Organisator*innen wollen sie trotzdem veranstalten. Ein Interview mit dem Sprecher der Budapest Pride Máté Hegedűs.

Veröffentlicht am 30 Mai 2025

Seit vielen Jahren greift die Regierung von Viktor Orbán in Ungarn die LGBT+ Community an. 2021 wurden durch das sogenannte „Propaganda-Gesetz“ Diskussionen über Geschlecht und Sexualität in Schulen, Medien, Werbung, Buchläden und sogar innerhalb von Familien verboten - ein russisches Gesetz von 2013 war dafür Vorbild. Im März 2025 änderte die Regierung dann das ungarische Grundgesetz und schränkte das Recht ein, sich zur Unterstützung der Rechte von LGBT+ Personen zu versammeln.

 Máté Hegedűs

Der Text erlaubt den Behörden auch den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologien zur Identifizierung von Veranstaltenden und Teilnehmenden, die mit Geldstrafen von bis zu 500 Euro belegt werden können. Die Regierung beabsichtigt, die für den 28. Juni 2025 geplante Budapest Pride zu verbieten. Máté Hegedűs ist Sprecher*in der Budapest Pride und LGBTQIA+-Aktivist*in. Hier schildert er*sie seine*ihre Eindrücke vom aktuellen politischen und gesellschaftlichen Klima in Ungarn.


Voxeurop: Wie ist die Lage derzeit in Ihrem Land?

Máté Hegedűs: Wir und viele andere haben Mühe zu kommunizieren, was natürlich mit dem Verbot der Budapest Pride zusammenhängt. Seit fast zwei Monaten versuchen wir, die Botschaft zu verbreiten, dass wir den 30. Budapest Pride March trotz des Verbots organisieren und weiter für unsere Rechte kämpfen werden.

Rechtlich haben sich mehrere Dinge geändert. Ich bin kein Jurist, aber ich werde versuchen, sie zusammenzufassen: Die Regierung hat zuerst das Grundgesetz geändert, also praktisch die ungarische Verfassung. Dann wurde mit Bezug auf eben dieses neue Grundgesetz auch das Versammlungsgesetz eingeschränkt.


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Früher mussten wir unsere Veranstaltung drei Monate vor der Veranstaltung bei der Polizei anmelden, das wäre der 27. März gewesen. Da sie das Gesetz nicht schnell genug ändern konnten, haben sie diese Ankündigungsfrist auf einen Monat verkürzt. Es ist klar, dass diese Änderungen nur dazu da sind, um uns vom Protestieren abzuhalten. Und ich denke, der Grund dafür ist politisch.

Es ist immer das gleiche Spiel: jedes Mal, wenn in Ungarn eine Wahl ansteht, macht die Regierungspartei Fidesz die LGBTQ-Gemeinschaft zum Sündenbock. Dies war bereits der Fall beim Propagandagesetz von 2021 - die Kopie eines russischen Gesetzes, durch das die Medienberichterstattung und die Aufklärung über LGBTQ-Themen eingeschränkt wurde.

Das Gesetz, das die Budapest Pride verbietet, ist bereits verabschiedet worden. Was können Sie denn jetzt noch tun?

Es geht darum, zu protestieren und unserer Stimme Gehör zu verschaffen. Das ist das wichtigste Mittel, um dagegen vorzugehen. Wir versuchen, den Marsch für alle, die daran teilnehmen wollen, so sicher wie möglich zu machen. Aber wir wissen, dass es danach rechtliche Schritte geben könnte, für die wir bereit sind, vor Gericht zu gehen. Die Regierung verbreitet Panik, indem sie mit Gesichtserkennung droht, was viele Menschen abschreckt, weil sie keine Geldstrafen zahlen wollen. Viele haben eh schon mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Aber selbst wenn Geldstrafen verhängt werden, können wir diese Fälle vor Gericht bringen, sodass theoretisch am Ende niemand zahlen muss.

Die EU hat diese Entscheidung bereits kritisiert, und es gibt Gespräche darüber, ob gegen die Regierung vorgegangen wird…

Ja, aber es ist wirklich schwer, die Regierung zu beeinflussen. Im Moment hat sie Angst, an Macht zu verlieren, weil die Oppositionsparteien an Popularität gewinnen. Wir hoffen, dass die Wahlen nächstes Jahr einen Wandel bringen.

Wir haben einen neuen Kandidaten, Péter Magyar, dessen Partei derzeit populärer ist als die Fidesz. Die Fidesz versucht nun, ihn zu einer Reaktion bezüglich unserer Situation zu bewegen, die sie nachher gegen ihn verwenden können. Aber er bleibt stur und hat sich bisher nicht geäußert. Wir als Organisation hoffen, dass er sein Wort hält und die Demokratie in Ungarn wieder herstellt. Dann könnten wir uns für unsere Rechte auch wieder mit Regierungsvertreter*innen zusammensetzen, was seit vielen, vielen Jahren nicht mehr geschehen ist.

Péter Magyar hat sich nicht wirklich zum Pride-Verbot geäußert. Hat er Angst, wegen des Verbots potenzielle Wähler zu verlieren?

Ja, ich glaube, dass er sich deshalb nicht äußert, was wirklich traurig ist. Aber ich denke, dass es heute viele Wähler*innen auf der rechten und der linken Seite gibt. Auch die politische Mitte ist stark. Ich glaube, er versucht, die Leute zu gewinnen, die von der Fidesz die Nase voll haben. Aber er könnte sie verlieren, wenn er sich offen für LGBTQI+ Rechte einsetzen würde, denn er kommt aus einem konservativen Umfeld.

Das Propaganda-Gesetz ist jetzt vier Jahre alt. Wie hat sich das Klima in Ungarn in Bezug auf LGBTQIA+-Themen verändert?

Schon vor dem Propagandagesetz gab es ein Verbot der rechtlichen Geschlechtsanerkennung, das viele Transgender und Intersexuelle tagtäglich betrifft.

Und das Propagandagesetz hat natürlich viele Auswirkungen. NGOs dürfen zum Beispiel nicht ohne Erlaubnis der Schulleitung in Schulen gehen. Und da Schulleiter*innen keinen Ärger bekommen wollen, lassen sie keine regierungskritischen NGOs zu. Doch obwohl die Fidesz sich sehr bemüht, die Menschen homophob und transphob zu machen, weil man mit Hass viel bewegen kann, zeigen die Zahlen etwas anderes.

So gibt es zum Beispiel keine Unterstützung für das Verbot der gesetzlichen Geschlechtsanerkennung. Mehr als 70 % der Menschen unterstützen das Recht von Transgender-Personen, ihren Namen und ihre Geschlechtszugehörigkeit selbst zu wählen. Die Zustimmung zur gleichgeschlechtlichen Ehe liegt mittlerweile bei über 60 %. Und auch die Unterstützung für den Pride March ist von 6 % auf 21 % gestiegen. Umfragen für die Zeit von 2019 bis 2023 haben ergeben, dass über 60%  der Befragten LGBT-Menschen aus ihrem eigenen Umfeld kennen.


„Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass auch andere Menschen nicht aufgeben und Ungarn nicht verlassen“


Daran sieht man, dass die Regierung das Gegenteil von dem bewirkt, was sie eigentlich will. Nämlich, dass sich die Menschen outen und für andere immer sichtbarer werden. Das könnte auch der Grund für die zunehmende Unterstützung unserer Community sein, denn wenn Menschen LGBT-Personen kennen und darunter auch geliebte Menschen oder Bekannte sind, können sie sie leichter akzeptieren.

Vielleicht ist das auch der Grund für den Wandel in der Politik. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, die Lage ist besser, als es manchmal scheint. Aber ich kann nur von meiner eigenen Meinung sprechen, die sich auf [die Situation in] der Hauptstadt bezieht. Obwohl es LGBTQ-Gruppen auch außerhalb von Budapest gibt [...], ziehen die meisten Leute hierher, weil sie sich in der Großstadt sicherer und besser akzeptiert fühlen. Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass auch andere Menschen nicht aufgeben und Ungarn nicht verlassen. Sie bleiben und kämpfen auf ihre eigene Weise, indem sie Räume für unsere Community schaffen.

Würden Sie sagen, dass die Stimmung eher kämpferisch als ängstlich ist, oder ist es eine Mischung aus beidem?

Die Leute in Ungarn erlauben es sich mittlerweile wütend und revolutionär zu sein, so gut sie es können. Wir wollen das System ändern, aber es ist natürlich schwer, das umzusetzen.

Es gibt so viele verschiedene Gruppen, die versuchen, für ihre Rechte einzutreten, und es ist oft schwierig für uns, das alles zusammenzuhalten. Viele NROs sind zersplittert, und jeder ist mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Da ist es schwer, an einem Strang zu ziehen. 2023 gab es die Lehrer*innen-Proteste, dieses Jahr protestierten die Richter*innen. Es gibt zu viele Gruppen, und dass wir uns nicht zusammentun, ist ein Vorteil für die Regierung. Vielleicht kann das Recht auf Protest uns vereinigen.

Wir hoffen, dass viele Menschen am Pride March teilnehmen werden. Wir haben viele Kommentare erhalten, in denen es hieß: „Ich habe noch nie am Pride March teilgenommen, weil ich nicht so recht damit einverstanden bin. Aber dieses Jahr werde ich mitgehen, weil es jetzt um viel mehr geht.”

Ist das etwas, das Sie der Bevölkerung vermitteln können?

Wir versuchen, so viel wie möglich zu vermitteln. Wir sind 15 Organisator*innen, die meisten sind Freiwillige. Nur jeder oder jede Sechste ist angestellt oder teilzeitbeschäftigt. Das ist eine riesige Aufgabe, aber wir haben unsere Grenzen, was die Ressourcen angeht. Wir sind auch davon betroffen, dass Trump einen Teil der Mittel für NGOs eingefroren hat.

Wir versuchen, mit einflussreichen Leuten, TikToker*innen oder TV-Moderator*innen zusammenzuarbeiten. Aber Fidesz und die Regierung haben unendliche Mittel, wenn es um Kommunikation geht. Es ist sehr schwer, dem etwas entgegenzusetzen.

Normalerweise stammen etwa 60 % unseres Budgets aus Zuschüssen, aber das ändert sich jetzt, denn ungarische Unternehmen haben Angst, uns zu unterstützen. Aber einige tun es trotzdem, was für uns sehr wichtig ist.

Wenn man nicht zu den zwölf NROs gehört - ich meine das wörtlich, denn es sind tatsächlich nur zwölf - die staatliche Mittel erhalten, dann ist man auf Zuschüsse und Ressourcen aus dem Ausland angewiesen. Wir müssen daher entweder zusammenarbeiten und gemeinsam EU-Finanzierungen beantragen oder wir bewerben uns alle für die gleichen Hilfen.

Ich bin immer wieder überrascht, wie sehr die LGBT-Gemeinschaft in Ungarn von der EU als hilfloses Opfer präsentiert wird. Ich glaube, wir missverstehen da etwas.

Ja. Ich glaube, die Ungarn und Ungarinnen werden im Allgemeinen ein wenig als Opfer betrachtet, vielleicht weil wir in unserer Geschichte so viele Proteste und Aufstände hatten, die einfach gescheitert sind.

Wir wollen keine Opfer sein und wir arbeiten ja auch daran, es nicht zu sein, aber ich habe das Gefühl, dass wir uns Freiheit nur begrenzt vorstellen können, weil wir sie schon so lange nicht mehr wirklich erlebt haben.

Eine kurze Zeit lang herrschte Tauwetter, aber das hat sich 2010, als die Fidesz wieder an die Macht kam, geändert. Ich selbst war damals noch ein Kind. Deshalb ist es für mich schwer, mir das Ziel vorzustellen, das wir am Ende erreichen wollen.

Ich denke, wir müssen Politik und Demokratie in Ungarn neu lernen, auch wenn einige das Gegenteil behaupten. Wir hatten noch nie mehr als 35.000 Teilnehmende bei der Budapest Pride, aber vielleicht können wir dieses Jahr einen neuen Rekord aufstellen. Wenn wir genug Leute zusammenbekommen, wird die Regierung sicher Angst bekommen. 

🤝 Dieser Artikel wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht

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