Interview Feministischer Widerstand gegen den Krieg

Lilija Veschevatova: „Die Frauen stehen im Mittelpunkt des Protests in Russland“

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat in Russland eine neue politische Kraft entstehen lassen: den Feministischen Widerstand gegen den Krieg, eine Untergrundbewegung, die im In- und Ausland präsent ist. Interview mit der Koordinatorin, Lilija Veschevatova.

Veröffentlicht am 4 Oktober 2023 um 17:19

Meridiano 13: Was ist der Feministische Widerstand gegen den Krieg?

Lilija Veschevatova: Der Feministische Widerstand gegen den Krieg ist eine Bewegung mit horizontaler Struktur, die nach der umfassenden Invasion der Ukraine durch Russland entstanden ist und russische Feministinnen (unabhängige Organisationen und Aktivistinnen) zusammenbringt. Unser Manifest (hier übersetzt ins Deutsche) wurde am 25. Februar 2022 veröffentlicht.

Wie ist die Bewegung organisiert?

Wir sind eine Bewegung mit horizontaler Struktur, ohne Hierarchie. Wichtige Entscheidungen werden im Rahmen von Videoanrufen der Koordinatorinnen und mit Hilfe eines anonymen Bots auf Telegram getroffen. Feministischer Widerstand gegen den Krieg ist ein Netzwerk mit autonomen Gruppen in den Städten. Um eine Gruppe zu eröffnen reicht es, die Positionen unseres Manifests zu teilen. Nach den Daten, über die wir verfügen, sind mehr als 45 feministische Gruppen in ganz Russland aktiv, von Kaliningrad bis Wladiwostok, und unsere Aktivistinnen arbeiten in 28 Ländern.

Ist die Bewegung und/oder sind die Aktivistinnen Repressionen seitens der Behörden ausgesetzt?

Ja, wie alle anderen Protestbewegungen im heutigen Russland ist auch unsere Bewegung Verfolgung und Repression ausgesetzt. Im Dezember 2022 erhielt die Bewegung den Status eines „ausländischen Agenten“, womit die Regierung versucht, ihre Aktivitäten zu unterbinden. Unsere Aktivistinnen und Koordinatorinnen werden regelmäßig festgenommen, mit Geldstrafen belegt und verhaftet, ihre Häuser werden durchsucht und ihre Computer beschlagnahmt. Wir versuchen, die gefährdeten Aktivistinnen aus Russland herauszuholen.

Nach Bekanntgabe der Mobilisierung kam es in ganz Russland zu Protesten der Mütter und Ehefrauen der Mobilisierten, der Rat der Ehefrauen und Mütter wurde gegründet. Welche Rolle spielten die Frauen in der Widerstandsbewegung in diesem ersten Jahr des Konflikts?

Feminist Anti-War Resistance
Das Logo des Feministischen Widerstands gegen den Krieg.

Tausende von Aktivistinnen protestieren gegen Krieg und Diktatur: Die Frauen verteilen Untergrundzeitungen, organisieren Mahnwachen und friedliche Demonstrationen. Schon vor dem Einmarsch in die Ukraine gingen Aktivistinnen regelmäßig auf die Plätze ihrer Städte, um gegen Korruption, häusliche Gewalt, die Blockade unabhängiger Medien und für die Verteidigung politischer Gefangener zu demonstrieren, obwohl sie polizeilichen Repressionen, öffentlicher Empörung und Hexenjagden im Internet ausgesetzt waren.

Nach dem 24. Februar 2022 sind Frauen nicht nur das Gesicht der Antikriegsproteste, sondern auch die wichtigste treibende Kraft bei der Lösung anderer kriegsbedingter Probleme. Frauen helfen Ukrainer*innen, die Russland ihrer Heimat beraubt hat; sie helfen Männern, die nicht töten und sterben wollen; sie helfen Anwält*innen, die von den Behörden als „Feinde“ bezeichnet werden. Seit dem 24. Februar ist das alles für viele russische Frauen wichtiger als ihre Karriere und ihr Privatleben.

In seiner Rede vor der Föderationsversammlung am 23. Februar 2023 betonte Putin erneut, dass die Familie eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau sei und dass in der auf traditionellen orthodoxen Werten beruhenden russischen Gesellschaft kein Platz für „westlichen Satanismus“ sei.

Der Krieg, die damit einhergehende Verstärkung der traditionalistischen Rhetorik und die Mobilisierung stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Rechte, die persönliche Sicherheit und das wirtschaftliche Wohlergehen der russischen Frauen dar. Die großen Geldsummen, die für Kriegseinsätze ausgegeben werden, könnten in das Wohlergehen von Frauen und Kindern investiert werden. Die Familie ist der Regierung offensichtlich egal, wenn es darum geht, die Reihen der Armee aufzustocken.

Die Männer werden weggeholt, ohne zu berücksichtigen, dass sie unterhaltsberechtigte minderjährige Kinder haben. In vielen Regionen mussten die Familien die mobilisierten Männer selbst ausrüsten und alles auf eigene Kosten kaufen, einschließlich kugelsicherer Westen. Wer wird sich um die Familien kümmern, die ihre einzige Lebensgrundlage verloren haben? All dieses Leid lastet auf den Schultern der Frauen. Viele der überlebenden Männer sind krank und arbeitsunfähig, und es sind immer die Frauen, die sich mangels staatlicher Unterstützung um sie kümmern müssen. 

Darüber hinaus werden wirtschaftliche Probleme und die soziale Krise unweigerlich zu einer Zunahme der häuslichen Gewalt führen; Männer, die in das zivile Leben zurückkehren, tragen kriegsbedingte psychologische Traumata mit sich, die häufig Aggressionen zur Folge haben.

Am 5. Dezember 2022 unterzeichnete Putin ein neues Gesetz, das LGBT+-Propaganda verbietet. Hat der Krieg die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verstärkt?

Die Regierung setzt den Kampf gegen die LGBT-Gemeinschaft mit der Verteidigung der Souveränität Russlands gleich. Schon vor der Verabschiedung des Gesetzes wurden im Parlament Debatten über das Verbot von „Schwulenpropaganda“ geführt, in denen die „sodomitische Ethik des neuen Menschen“ diskutiert wurde.


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Diese „Sünde“ wird von den Parlamentariern nicht als Privatangelegenheit, sondern als Sache des Staates bezeichnet. „Von der Ethik des Landes, das sich im Krieg befindet, hängt unser zukünftiger gemeinsamer Sieg ab“, sagte ein Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche bei dieser Gelegenheit. Diejenigen, die ihre „nicht-traditionelle sexuelle Orientierung“ nicht verbergen, werden ebenso verfolgt wie zivile Aktivisten und Oppositionspolitiker. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine haben viele Russland verlassen, aber die meisten haben diese Möglichkeit nicht.

Was bedeutet es heute, ein Vertreter der LGBT+-Gemeinschaft in Russland während des Krieges zu sein?

Das Gesetz enthält keine genaue Definition von „Homosexuellen-Propaganda“: Das bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit der Verfolgung eines großen Teils der Bevölkerung hoch ist. Die militaristische Rhetorik war bereits während der Diskussion über das Gesetz präsent: LGBT-Propaganda wurde als Kern des hybriden und geistigen Krieges definiert, den „der kollektive Westen“ Russland erklärt hat. Die Misserfolge vor Ort in der Ukraine sind mit dem moralischen Verfall verbunden; der Sieg über die „Sodomie“ bedeutet auch den Sieg im Krieg.

Welche Art von Protestaktionen haben Sie organisiert?

Der Feministische Widerstand besteht jetzt seit mehr als einem Jahr. In dieser Zeit haben die Aktivistinnen Dutzende von Aktionen organisiert: von Frauenmärschen zu Beginn des Krieges bis hin zu Performances, als Demonstrationen gegen den Krieg in Russland unmöglich wurden. Eine der Hauptaufgaben besteht darin, die „Informationsbelagerung“ zu unterlaufen, in die die Russ*innen durch die Kriegszensur geraten sind. Die Gruppen in Russland gehen nach ihren eigenen Sicherheitsprotokollen vor und demonstrieren anonym: Sie verbreiten Flugblätter, um die Mobilisierung zu verhindern, verteilen die Zeitung der Bewegung, „Ženskaja Pravda“ („Frauenwahrheit“), und organisieren Widerstandsaktionen.

Darüber hinaus haben wir in Russland Gruppen zur Stärkung des Antikriegs-Selbstbewusstseins gegründet, deren Ziel es ist, Menschen mit Antikriegshaltung, die ihre Position nicht frei äußern können, zu vereinen; es wurde ein psychologisches Unterstützungssystem eingerichtet, bei dem über 1.000 Anfragen eingegangen sind.

Eine weitere Arbeit findet im Internet statt. Wir erstellen virale Inhalte: zum Beispiel Grußkarten mit Antikriegssprüchen, die wir in sozialen Netzwerken verbreiten. Über soziale Netzwerke und Telegram-Bots veröffentlichen wir wichtige Hinweise zur Vermeidung von Mobilisierung sowie Anwaltskontakte.

Der Feministische Widerstand gegen den Krieg hat sich der Online-Plattform von Alexej Nawalny angeschlossen.

Ja, die Büros von Nawalny nutzen erfolgreich eine sicherere Plattform auf TOR, um Koordinator*innen mit Freiwilligen in Russland zu verbinden. Sie haben anderen Oppositionsbewegungen vorgeschlagen, ihre eigenen Gruppen auf ihrer Plattform zu eröffnen, und wir haben als Erste zugestimmt. Jetzt können auch unsere Aktivistinnen in Russland über die Plattform in Kontakt bleiben und ihre Arbeit koordinieren. 

Wie beurteilen Sie die Bewegung in diesem ersten Jahr ihres Bestehens und welche Perspektiven sehen Sie für die Zukunft?

In diesem Jahr hat sich unsere Bewegung als neue politische Kraft in Russland etabliert und ein enormes Arbeitspensum bewältigt. Der Widerstand ist für viele von uns zum wichtigsten Lebensinhalt geworden. Solange russische Raketen über ukrainische Städte fliegen, solange in der Ukraine Frauen, Männer, Kinder und alte Menschen durch die Hand russischer Soldaten sterben, können wir nicht aufhören.

Ursprünglicher Artikel auf Meridiano 13

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