Francisco und Bernardete Sesinando, Nachbarn von Pedro Passos Coelho.

Mein Nachbar, der Premierminister

Portugals Premierminister Pedro Passos Coelho lebt in einem Lissabonner Vorort. In seiner Straße hat die Krise bereits mehrere Opfer gefordert. Expresso erzählt, wie seine Nachbarn, Vertreter der portugiesischen Mittelschicht, mit den von ihm beschlossenen Sparmaßnahmen zurechtkommen.

Veröffentlicht am 17 November 2011 um 16:38
Francisco und Bernardete Sesinando, Nachbarn von Pedro Passos Coelho.

Wenn Pedro Passos Coelho das Gebäude wieder zu Fuß über den Haupteingang verließe ‑ statt das diskrete Garagentor auf der Rückseite zu benutzen, das er seit seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten bevorzugt ‑ würde er sich sofort der unmittelbaren Auswirkungen der Krise in seiner Straße in Massamá bewusst werden. Das Land ist aufgebacht. Und ein Großteil der Nachbarschaft in diesem Vorort von Lissabon ebenfalls. An dem Tag, an dem die Kürzungen der Urlaubs- und Weihnachtsgelder angekündigt wurden, regnete es Schmähungen aus den Fenstern, als der Nachbar sich auf den Weg zur Arbeit machte.

Bankrott gehört zum Alltag

Gegenüber der Nummer 27 der Rua da Milharada gibt es einen Frisörsalon und ein Restaurant, beide sind geschlossen. Das Restaurant wechselte in den letzten zwei Jahren wegen mangelnder Kundschaft bereits dreimal den Betreiber. Viele Geschäfte in dieser von hohen Wohnblocks gesäumten Straße erzählen eine ähnliche Geschichte. Kein Monat vergeht, in dem nicht ein weiteres Etablissement bankrottgeht, ein weiterer Mitarbeiter entlassen wird, oder weitere Lohnkürzungen angekündigt werden.Taktgeber dieser Dekadenz sind die alle paar Monate verschärften Maßnahmen zur Sanierung der Staatsfinanzen.

Einige Hausnummern über dem geschlossenen Restaurant und dem Frisör starrt Rute Ramos, 35, auf eine riesige Weltkarte und hofft auf einen Kunden, der vielleicht eine Winterreise nach Lappland (das Land des Weihnachtsmanns) oder einen Flug an wärmere und sonnigere Urlaubsziele wie die Karibik bucht. Aber es reisen nur diejenigen ins Ausland, die sich zu Hause wohl fühlen. "Und diese Gruppe schrumpft zusehends. Seit letztem Jahr verzeichnen wir einen 50-prozentigen Rückgang der Kunden ‑ hauptsächlich Beamte, vor allem Lehrer, die nun kein Geld mehr für Urlaubsreisen haben." Viele dieser einst reiselustigen Kunden wohnen in Passos Coelhos Nachbarschaft. Rute Ramos, Mutter einer einjährigen Tochter, schätzt sich glücklich, überhaupt noch einen Arbeitsplatz zu haben. Ihr Mann sitzt arbeits- und einkommenslos zu Hause. "Ich habe den Eindruck, dass die Hälfte der Portugiesen arbeitslos ist", meint sie. Und viele von denen, die noch arbeiten, müssen wie sie niedrigere Löhne und Gehälter und unsichere Arbeitsverhältnisse hinnehmen.

Die Eigentümerin eines Frisörsalons erzählt, dass sie im letzten Jahr einen 30-prozentigen Umsatzeinbruch verzeichnete. "Ich frage mich, ob ich meinen Ertrag nicht bei unserem Regierungschef da oben im 5. Stock hinterlegen soll, vielleicht kann er ja mein Geschäft besser verwalten als ich." Sie findet, dass "Maßnahmen nötig waren, aber nicht so plötzliche und so drastische". Das ist aber nicht persönlich gemeint. So wie viele andere Nachbarn findet sie Passos Coelho "nett und zuvorkommend".

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Goldene Zeiten in Krisenzeiten

Vom Wohnblock aus, in dem Passos wohnt, sticht ein neuer Laden ins Auge. Er wurde vor vier Monaten eröffnet und ist ebenfalls ein Ergebnis der Krise: Hier wird Gold und Schmuck in klingender Münze abgegolten. Da das Land tief verschuldet ist, blüht das Geschäft. In dieser Straße in Massamá und in vielen anderen Straßen des Landes. Papiertaschentücher, eine Waage und ein Laptop, mehr braucht Liliana Coelho, 29 Jahre, nicht. Fast täglich tritt hier jemand ein, um Gold zu Geld zu machen. Vor allem geschiedene Frauen zwischen 30 und 50 Jahren. Für sie ist die Lage besonders schwierig. Hier werden ihnen 18 Euro pro Gramm geboten.

Dieser Preis liegt weit unter dem offiziellen Kurs. An der Börse wird das glänzende Metall zu mehr als 42 Euro gehandelt. "Sie müssen für ihre Kinder sorgen und sind überschuldet." Die Kunden sind am Ende und verkaufen alles, was sie haben. Ringe, Goldketten, Uhren. "Ich sehe hier viele verzweifelte Menschen. Wir behalten Goldschmuck lange Zeit, manchmal ein Leben lang. Da ist es schwierig, sich in wenigen Minuten davon zu trennen." Liliana ist nicht sicher, ob die 600 Euro, die sie verdient, die Last aufwiegen, um den Preis zu feilschen und aus dem Unglück anderer Gewinn zu schlagen.

Auf der anderen Straßenseite macht sich João Alves, 70, weißes Haar, auf den Weg in die Apotheke, nicht um zu feilschen, sondern um herauszufinden, welche Medikamente er sich noch mit dem Betrag leisten kann, der ihm von seinen kläglichen, auf 450 Euro gekürzten Monatseinkommen übrigbleibt. Er wurde kürzlich operiert, erhielt eine Schulterprothese und muss sich nun damit abfinden, dass er nur mehr einige Medikamente kaufen kann. Er zählt die Tage, bis er wieder kräftig genug ist, um sich in sein Taxi zu setzen und täglich zwölf Stunden zu fahren. "Nur so kann ich meine Schulden und die meiner Frau bezahlen und auch noch meinen Kindern helfen, die finanziell nun wieder auf mich angewiesen sind."

"Es gibt keine Gerechtigkeit in diesem Land. Wer ein Kilo Äpfel stiehlt, wird ins Gefängnis geworfen, wer Tausende unterschlägt, dem wird kein Haar gekrümmt. Ich meine die Politiker und Unternehmer, die uns in diese Lage gebracht haben ...", empört er sich.

"Sócrates ist schuld"

Nur im Gebäude des "netten, zuvorkommenden" Nachbarn im 5. Stock rechts findet man einen mäßigeren Diskurs. Sogar, wenn im Hintergrund der Nachrichtensprecher über die Panik im Finanzsektor berichtet. Auf dem Sofa sitzen Francisco und Bernardete Sesinando, 78 und 76, neben ihrem Hund "Princesa". Sie können das Wort Krise, Krise und noch mehr Krise nicht mehr hören. So wie Passos Coelho bewohnen sie eine rund 200 Quadratmeter große Vierzimmerwohnung. Der Ehemann ruft "Nanete", sobald der Nachbar im Fernsehen gezeigt wird.

Die beiden schieben alle Schuld auf Sócrates. Sein Nachfolger hat eine blütenweiße Weste: "Er musste den Forderungen der Troika nachgeben, sonst wäre das Land verloren gewesen", fasst der Oberstleutnant der Reserve die Situation zusammen. Seine Frau, eine ehemalige Musiklehrerin, klagt über die ständigen Anrufe ihrer Freundinnen, die versuchen, den benachbarten Pedro über sie zu beschimpfen. Was für eine Zumutung. "Pedro ist wie ein Sohn für mich!"

Aus dem Portugiesischen von Claudia Reinhardt

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