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Migration, Medien und worüber man reden sollte

Während Polen das Asylrecht aussetzen will, versuchen Italien und Albanien, ihr Abkommen zur Auslagerung der Migration umzusetzen. Welche Artikel Sie zu diesem Thema lesen sollten und warum ausgerechnet diese, erklärt Adrian Burtin in seiner Presseschau.

Veröffentlicht am 6 November 2024

„Das ist aber nicht sehr objektiv“, sagt man mir manchmal in Bezug auf die Artikel, die ich zum Thema Migration veröffentliche. Das stimmt. Die Leser erhalten durch meine Auswahl einen Einblick in meine Gedanken zu diesem Thema. Im Sinne der Transparenz möchte ich diese Presseschau dazu nutzen, um Ihnen so gut wie möglich zu erklären, warum ich die folgenden Artikel aus der Fülle von Informationen zu diesem Thema herausgefiltert habe und was sie über die aktuelle Migrationsdebatte aussagen.

Ein gefährlicher Präzedenzfall

In Europa findet eine allgemeine Offensive gegen die Menschenrechte statt, und nirgends ist sie derzeit so krass wie in Polen. Am 12. Oktober gab Donald Tusk (PO, Mitte-Rechts) bekannt, das Asylrecht auf seinem Territorium vorübergehend aussetzen zu wollen, um die „illegale Einwanderung“ an der Ostgrenze Polen zu „bekämpfen“. Eine Entscheidung, die angesichts des Profils des polnischen Premierministers als „gemäßigter Zentrist“ überrascht: 

“Tusks Schritt ist ein symptomatisches Verhalten für die Parteien der Mitte in diesen Tagen: Der Wunsch nach Asyl-Verschärfungen findet kein Ende, auch wenn die Zahlen stark sinken – wie hierzulande – oder schon sehr niedrig sind, wie in Polen”, erklärt Christian Jakob in der TAZ und schreibt weiter: “Auf die EU-Kommission, die solche offenkundigen Verstöße gegen EU-Normen eigentlich unterbinden müsste, braucht niemand zu hoffen. Wenn es um Migration und Asyl geht, hat sie in der Vergangenheit – von wenigen Ausnahmen abgesehen – de facto alles toleriert, was den Mitgliedstaaten eingefallen ist, um sich Flüchtlinge rechtswidrig vom Hals zu halten.”


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In einer ausführlichen Analyse für Krytyka Polityczna bietet Paulina Siegień eine Erklärung für die Kehrtwende der polnischen Regierung. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass hinter Donald Tusks Besessenheit für das Thema Migration die politische Verzweiflung eines Mannes an der Spitze einer trägen Regierung steht, die nicht nur unfähig ist, wichtige Reformen einzuführen, sondern die auch nicht die leiseste Vision für die Entwicklung Polens hat“.

Aus diesem Grund, meint sie weiter, spreche die Regierung Tusk selbst ein Jahr nach ihrer Machtübernahme noch immer davon, „die Kontrolle zurückzuerlangen“, und nutze universelle Themen wie Sicherheit und Migration dafür als Krücke.

Siegień, die daran erinnert, dass die überwältigende Mehrheit der 2024 in Polen registrierten Anträge auf internationalen Schutz von Ukrainern und Belarussen gestellt wurde, weist auch auf die Kollateralschäden der polnischen Maßnahmen hin: „Wie kann [die Regierung] glauben, dass die Aussetzung des Asylrechts die Situation an der polnisch-belarussischen Grenze und die Migrationssituation im Allgemeinen in Polen verändern wird? Kommt doch die Mehrheit der Migranten legal in unser Land [...] mit Studenten- oder Arbeitsvisa!“

Schließlich stellt sie das von Tusk erklärte Ziel infrage, die von Minsk ausgehenden Destabilisierungsversuche zu bremsen. „Wie soll die Aussetzung des Asylrechts Lukaschenko zwingen, die Migrationsroute [...] zu schließen, wenn keine der an der Grenze angewandte repressive Politik Polen bisher diesem Ziel nähergebracht hat?“, fragt sie.

Warum also habe ich diese beiden Artikel ausgewählt? Weil der Artikel von Christian Jakob auf kluge Weise daran erinnert, dass hartes Durchgreifen gegen Migranten heute auch von ganz anständigen „zentristischen“ Parteien gefordert wird - ein Umstand, der uns dazu bringen sollte, die Natur und die Herkunft der sogenannten roten Linien, die wir in der Politik ziehen, zu überdenken. Paulina Siegieńs Analyse hingegen bietet eine nationale Perspektive und befasst sich mit Themen, die außerhalb Polens kaum bekannt sind, wobei sie unter anderem eine Verbindung zwischen der Migration und der wachsenden Bedeutung der Rolle des Militärs im Land herstellt.

Gegen die Vereinfachung komplexer Sachlagen

Ein weiterer Aspekt wird bei der Berichterstattung zu diesem Thema bei aller berechtigten Sorge um die immer eingeschränkteren Menschenrechte nicht genug beachtet: die technischen und rechtlichen Aspekte der europäischen Migrationspolitik. Das Abkommen zwischen Italien und Albanien ist dafür ein gutes Beispiel.

Dieses sieht vor, dass in Italien ankommende Asylsuchende zunächst in albanische Auffanglager geschickt werden, bis ihre Anträge von den italienischen Behörden bearbeitet werden. Dieser Pakt erlitt am 18. Oktober jedoch einen Rückschlag. Ein Gericht in Rom erklärte die Inhaftierung der ersten Migranten, die am 16. Oktober in Albanien angekommen waren, für ungültig und zwang sie zu einer Notrückführung. Die italienische Regierung war wütend und versuchte verzweifelt, den Text notdürftig zu überarbeiten, um ihn doch noch in Kraft treten zu lassen. 

Diese Situation macht deutlich, dass es mehr Diskussionen über die rechtliche Durchführbarkeit dieser Art von Politik geben muss. In einer Analyse für die italienische Zeitschrift Internazionale geht Annalisa Camilli detailliert auf die zahlreichen Probleme ein, die das Abkommen mit sich bringt. Sie zitiert darin den Juristen Vassallo Paleologo, der darauf hinweist, dass „die mit der Unterstützung von albanischen Polizeikräften durchgeführten Rückführungen (...) nach willkürlichen Inhaftierungen in Sammelabschiebungen enden könnten“, was die Europäische Menschenrechtskonvention verbietet. Für Paleologo kommt auch ein Verstoß gegen das Verbot der Zurückweisung auf Grundlage der Genfer Konvention und der internationalen Seerechtsübereinkommen in Betracht. 

Auch die Rechtmäßigkeit des Projekts in Italien selbst - insbesondere im Hinblick auf die Verfassung - ist umstritten. Die Entscheidung der Justiz in Rom ist der jüngste Beweis dafür. Auch in Albanien ist die rechtliche Lage unklar, wie Giovanni Vale in der Zeitschrift Gli Asini erklärt: “Manche Juristen werfen der Regierung vor, mit diesem Abkommen das Prinzip der Extraterritorialität missbraucht zu haben, das normalerweise nur für abgegrenzte Gebiete gilt, die im Rahmen einer diplomatischen Vertretung von Staatsbeamten ‘bewohnt’ werden.”

Im Rahmen des Migrationsabkommens müssten jedoch Tausende von Menschen in den Abschiebezentren untergebracht werden - mit allen damit verbundenen Sicherheitsrisiken. 

Darüber hinaus, erklärt Giovanni Vale, “hat das Urteil, dass sowohl die italienische als auch die albanische Rechtsprechung in den Zentren angewandt werden soll, viele Juristen verwirrt“. Denn „in der Tat haben Italien und Albanien unterschiedliche Gesetzgebungen im Bereich des Zivil-, Straf-, Arbeits- und Familienrechts und es ist nicht klar,  welches von beiden sich im Konfliktfall durchsetzen wird“.

Wichtig an diesen beiden Artikel ist mir, dass sie einen entscheidenden (aber oft übersehenen) Punkt der Kritik an dieser Art von Migrationsabkommen offenlegen: die grundlegende Bedeutung von Rechtstexten, die das Verhalten eines Staates innerhalb und außerhalb seiner Grenzen klar definieren und einschränken - weshalb sie nicht nur gelegentlich zur Verteidigung der Menschenrechte hochgehalten werden dürfen!  

Diese Situation ist komplex. In diesem Sinne erfüllt Giovanni Vales Analyse eine wichtige Aufgabe, indem sie die Reaktion der albanischen Institutionen auf den Migrationspakt beschreibt, die in vielen Medien ignoriert wird.

Die Komplexität der Migration zu ignorieren, die Bedeutung grundlegender Texte unter den Teppich zu kehren und Panikmache zu tolerieren, bedeutet, eine entmenschlichende und kleinkarierte öffentliche Debatte zu führen. Angesichts des Aufstiegs der extremen Rechten und der Verharmlosung ihrer Ideen durch die Mainstream-Parteien ist es wichtig, neue Perspektiven zu eröffnen und sich gegen eine solche Vereinfachung zu wehren. 

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