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Migration und psychische Gesundheit: die große Unbekannte

Die von Migranten verübten Angriffe sind oft Anlass, um eine vermeintliche Verbindung zwischen Migration und Gewalt zu behaupten. Der Zusammenhang zwischen diesen Tragödien, den psychischen Störungen und dem Leid, das durch die Aufnahmebedingungen entsteht, wird dabei jedoch häufig ignoriert.

Veröffentlicht am 8 April 2025

Am 22. Januar 2025 wurden zwei Menschen bei einer Messerattacke in einem Park in Aschaffenburg getötet. Der Täter, ein 28-jähriger Mann, wegen Gewaltdelikten bereits bekannt, war Afghane. Das Drama rief in den Köpfen der durch den Wahlkampf überhitzten Gemüter sofort Erinnerungen an die Anschläge von Solingen und Mannheim hervor. Die Herkunft der mutmaßlichen Verantwortlichen hat auch in Deutschland eine immer lauter werdende These untermauert: Diese Dramen seien die Folge der massiven, unkontrollierten Einwanderung, die es grundsätzlich gewalttätigen Menschen ermöglicht, zu uns zu kommen.

Dieses Gefühl wird durch die Überzeugung genährt, dass es einen Zusammenhang zwischen Migration, Kriminalität, Religion und Gewalt gibt - alles bekannte Vorurteile, die wir auch auf Voxeurop überprüft und widerlegt haben. Trotzdem rücken die Mainstream-Medien und viele Politiker nicht davon ab, einen Zusammenhang zwischen diesen gewalttätigen Übergriffen, Migranten und psychischem Leiden herzustellen.


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Das Online-Medium Infomigrants befragte kurz nach dem Angriff in Aschaffenburg mehrere Experten und Expertinnen und erinnert daran, dass der Angreifer „nach Angaben der Behörden an psychischen Störungen litt und nach seiner Festnahme in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Psychische Störungen wurden auch bei einem Afghanen diagnostiziert, der im Mai in Mannheim einen Kandidaten der extremen Rechten angegriffen und dabei einen Polizisten getötet hatte.“

Angreifer, die laut Ulrich Wagner, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg, „unabhängig von ihrem Migrationshintergrund unter weitreichenden psychischen Problemen leiden könnten“. Wagner betont, dass er die Taten nicht entschuldigen will, fordert jedoch, die tieferen Ursachen zu ermitteln. Eine dieser Ursachen könnte „ihre Lebensbedingungen in Deutschland“ sein, die „offensichtlich solche psychischen Störungen begünstigt haben“: schwieriger Zugang zu ambulanten Therapieeinrichtungen, fehlende Mittel, Erstaufnahmeunterkünfte mit mangelnder Privatsphäre, Arbeitslosigkeit, Unmöglichkeit, das Leben durch Arbeit oder soziale Interaktionen zu strukturieren... Die Liste ist lang. Doch allzu oft werden diese Faktoren ausgeklammert, ebenso die Frage, inwieweit Migration Traumata auslösen kann.

Im Tagesspiegel befragt Nora Ederer die Ärztin und Professorin für interkulturelle Psychiatrie Meryam Schouler-Ocak zur psychischen Gesundheit von Flüchtlingen in Deutschland. Auch sie bestätigt das Ausmaß des Problems und nennt unter anderem die Sprachbarriere, die von Migranten und Migrantinnen erlebte Diskriminierung und die bürokratische Schwerfälligkeit der Aufnahme als erschwerende Faktoren.

„Dolmetscher*innen sind im System nicht vorgesehen.Bei uns an der Institutsambulanz bezahlen wir sie aus unserem eigenen Budget“, berichtet sie. „Das ist auch der Grund, warum manche Therapeutinnen und Therapeuten, wenn sie die Wahl haben, lieber Patientinnen und Patienten aufnehmen, mit denen sie weniger Aufwand haben.“

Die Probleme beginnen nicht erst, wenn sie im Aufnahmeland angekommen sind; für viele Vertriebene spielt die Reise eine große Rolle bei der Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit. In einer langen und umfassenden Analyse des Center for Strategic and International Studies (CSIS) - hier wiedergegeben in iMEdD Lab - wird das Phänomen des „Flaschenhalses“ zwischen Tunesien und Italien untersucht. Dort werden viele Exilanten und Exilantinnen auf ihrer Reise gebremst; Blockaden, die unter anderem durch die europäische Outsourcing-Politik verursacht werden und deren Folgen alles andere als harmlos sind. „Gefangen in einem Teufelskreis zwischen Tunesien und [der italienischen Insel] Lampedusa, ohne sichere Alternative am Horizont, erleiden viele Migranten, Migrantinnen und Geflüchtete ein zusätzliches Trauma“. Unter Berufung auf eine Studie aus dem Jahr 2019 zur psychischen Gesundheit von Flüchtlingen in Tunesien heißt es: „Zwar führt Migration nicht automatisch zu einem späteren Trauma, doch stellt sie einen tiefgreifenden Lebensübergang dar, der von den Betroffenen eine erhebliche Anpassung erfordert, wobei die Migration durch Phasen relativer Ausgeglichenheit und andere Perioden von Stress gekennzeichnet ist.“

Der Zusammenhang zwischen Prekarität und psychischer Gesundheit ist heute hinreichend belegt. Im Bereich der depressiven Störungen beispielsweise ergab eine Analyse von Eurostat, dass 2019 „Personen aus dem ersten/niedrigsten Einkommensquintil (die 20 % der Bevölkerung mit dem niedrigsten Einkommen) am ehesten über depressive Symptome berichteten“. 10,6 % von ihnen waren davon betroffen; diese Zahl war „etwas mehr als dreimal so hoch wie die der Personen aus dem fünfthöchsten Einkommensquintil“.

Dies gilt umso mehr, als die psychosozialen Folgen der Migration noch wenig bekannt sind. Allein die Tatsache, dass man sein Land auf unbestimmte Zeit verlässt und sein ganzes Leben hinter sich lässt, könnte zu einer „Migrationstrauer“ führen, die in der Folge reaktiven Stress verursachen kann. In der spanischen Zeitschrift Ethic bezeichnet Ana Mangas diesen Stress als „Odysseus-Syndrom“ und greift damit den Begriff des Psychiaters, Professors und Autors Joseba Achotegui auf.

Da das Syndrom bislang nicht als psychische Störung angesehen wird, unterscheidet es sich von Pathologien wie Depressionen, sagt Mangas und Achotegui erklärt, dass das Syndrom durch „erzwungene Einsamkeit, Angst, Hilflosigkeit und Mangel an Möglichkeiten“ ausgelöst werden kann. Die Symptome sind vielfältig: Traurigkeit, Angstzustände, Schlaflosigkeit, Muskelschmerzen, Verdauungsstörungen, Gedächtnisprobleme usw.

Die Aufnahmebedingungen können ebenfalls zum Stress beitragen: die Belastung durch Behördengänge, die Notwendigkeit, traumatische Erlebnisse immer und immer wieder zu erzählen, Diskriminierung etc. Mangas zufolge bedeutet die Bekämpfung des Odysseus-Syndroms, die Zusammenhänge zwischen Migration und psychischer Gesundheit besser zu verstehen, ein menschenwürdiges Gesundheitssystem für alle zu schaffen und die Migration zu „humanisieren“.

Es gibt zwar Studien zu psychischen Störungen bei bestimmten Migranten, diese sind jedoch räumlich und zeitlich verstreut. Ein allgemeines Bild der Situation ist dennoch möglich.

In einer Übersicht über 21 Studien zu diesem Thema zeigen Farah Abdulrahman, Mary Birken, Naomi Glover, Miranda Holliday und Cornelius Katona vom University College London, wie die Bedingungen für eine vorübergehende Unterbringung die psychische Gesundheit von Migranten und Migrantinnen beeinflussen. Schwierigkeiten, sich an eine neue Umgebung zu gewöhnen, das Gefühl, eingesperrt zu sein, mangelnde Aktivität, Erosion des Sicherheitsgefühls und des Vertrauens: All diese Faktoren erklären den Forschern und Forscherinnen zufolge die Belastung, die Zwangsumsiedlungen darstellen können, und die gesundheitlichen Folgen, die diese verursachen können.

Wenn, wie ihre Arbeit zeigt, ein großer Teil der Vertriebenen an einer Störung der psychischen Gesundheit leidet (Angstzustände, Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen), so kann daraus natürlich nicht geschlossen werden, dass sie alle aufgrund ihres traumatischen Hintergrunds potenziell gewaltbereit sind. Aber die Verbindung zwischen den in die Schlagzeilen geratenen Angriffen und der Frage der psychischen Gesundheit der Verdächtigen gewinnt immer mehr an Bedeutung.

Allzu oft wurden die Gründe für diese Angriffe mit dem persönlichen, ethnischen und religiösen Profil der Angreifenden erklärt, wobei die unerlässlichen Fragen der sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Verwundbarkeit und letztlich der zutiefst systemische Charakter des von Migrierenden erlebten Leidens ausgeblendet wurden.

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ECF, Display Europe, European Union

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