Interview Prekarität

Ökonom Jérôme Valette: „Eingewanderte werden nicht häufiger straffällig“

Kann man eine Verbindung zwischen Migration und Kriminalität herstellen, wie es die Verantwortlichen der extremen Rechten tun, denen manche Medien willfährig folgen? Allzu oft neigt man dazu, den Zusammenhang zwischen der Anwesenheit einer Migrierendenbevölkerung und der Zunahme von Straftaten zu vereinfachen, obwohl es keinen Beweis für eine Korrelation gibt, stellt der französische Wirtschaftswissenschaftler Jérôme Vallette fest.

Veröffentlicht am 29 Januar 2025
Jérôme Valette | Sorbonne

Jérôme Valette ist Wirtschaftswissenschaftler am CEPII (Centre d'études prospectives et d'informations internationales), dem 1978 gegründeten, führenden französischen Forschungs- und Kompetenzzentrum für internationale Wirtschaft. Valette ist außerdem Dozent für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paris 1 Panthéon Sorbonne und Leiter der Abteilung Dynamics am Institut Convergences Migrations (ICM).

Jérôme Valette ist Spezialist für Migrationsfragen und hat zusammen mit Arnaud Philippe, einem auf Strafjustiz spezialisierten Wirtschaftswissenschaftler, den Artikel Immigration et délinquance: réalités et perceptions (Immigration und Kriminalität: Realitäten und Wahrnehmungen) verfasst. Dieser beleuchtet eine Frage, die in politischen Debatten und statistischen Analysen immer wieder auftaucht: Besteht ein Zusammenhang zwischen Migration und steigender Kriminalität?

Voxeurop: Besteht ein Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität ?

Jérôme Valette: Das kommt auf die Art des Zusammenhangs an. Einen direkten kausalen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität gibt es nicht. Mit anderen Worten: Bei gleichwertigen demografischen und sozioökonomischen Merkmalen haben Zugewanderte keine höhere Wahrscheinlichkeit, ein Vergehen oder Verbrechen zu begehen, als Einheimische.


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Die demografischen und sozioökonomischen Merkmale sind bei Zugewanderten und Einheimischen jedoch fast immer unterschiedlich. Männer, Jugendliche und Menschen in prekären Verhältnissen sind in den Migrationsströmen häufig überrepräsentiert.

Diese spezifischen Faktoren können dann die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Straftat begangen wird. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit aber genauso, wenn sie bei Einheimischen beobachtet werden.

Es gibt zwei Dinge. Einerseits den kausalen Zusammenhang: Erhöht der Migrierendenstatus an sich die Wahrscheinlichkeit, dass eine Straftat begangen wird, wenn alle anderen Rahmenbedingungen gleich sind? Die Antwort lautet: Nein.

Andererseits kann es Merkmale geben, die mit bestimmten Migrationswellen verbunden sind (wie Armut und Unsicherheit) und die die Wahrscheinlichkeit von Straftaten erhöhen können. Diese Merkmale erhöhen jedoch auch die Wahrscheinlichkeit von Straftaten, wenn sie bei Einheimischen vorkommen.

Vereinfacht könnte man also sagen, dass Prekarität die Wahrscheinlichkeit, eine Straftat zu begehen, erhöhen kann, nicht aber Migration, richtig?

Bei Personen, die zu den Migrierenden zählen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Straftat begehen, im Durchschnitt nicht höher. Wenn sie jedoch zu den armen Migrierenden zählen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Straftat begehen, höher, weil sie arm sind, und nicht, weil sie Migrierende sind.

Zu den Migrierenden zu zählen erhöht an sich nicht die Wahrscheinlichkeit, eine Straftat zu begehen. Wenn jedoch eine Person, die zu den armen Migrierenden zählt, einem höheren Risiko ausgesetzt ist, ist die Armut die Ursache dafür, und nicht die Tatsache, dass die Person zu den Migrierenden zählt.

Ist nicht bereits die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität verzerrt? Als Journalist*in oder Forscher*in versucht man sehr oft, Behauptungen, die von Grund auf falsch sind, durch Faktenchecking zu überprüfen.

Ich denke, dass aus Sicht der Forschung alle Fragen legitim sind und es keinen Grund gibt, eine Frage einer anderen vorzuziehen. Zumal der Zusammenhang zwischen Einwanderung und Unsicherheit die Einheimischen stark beschäftigt, ist es also legitim, dass sich Journalistinnen, Journalisten und Forschende damit befassen.

Unsere Aufgabe ist es jedoch, dieses Thema zu behandeln, indem wir über die bloße Interpretation von Kriminalitätsstatistiken hinausgehen.

Es ist von entscheidender Bedeutung zu verstehen, dass die von den Einheimischen hergestellte Assoziation zwischen Einwanderung und Kriminalität weitgehend aus ihrer Lesart dieser Statistiken resultiert. Wenn man beispielsweise feststellt, dass Ausländer*innen 8 % der Bevölkerung Frankreichs ausmachen, aber 17 % der wegen Straftaten Angeklagten, zieht man daraus allzu schnell den Schluss, dass es einen direkten Zusammenhang gibt. Diese Argumentation ist zwar intuitiv, reicht aber leider nicht aus.

Warum?

Es gibt viele Gründe, die mechanisch dazu führen können, dass Zugewanderte in der Kriminalitätsstatistik überrepräsentiert sind. Man denke beispielsweise an Diskriminierung.

Wenn Zugewanderte in der gesamten Strafkette eher mit Diskriminierung konfrontiert sind – sei es die Wahrscheinlichkeit, verhaftet oder für schuldig befunden zu werden –, dann haben sie im Vergleich zu Einheimischen mechanisch eine höhere Wahrscheinlichkeit, angeklagt und verurteilt zu werden. Dies führt zu einer scheinbaren Überrepräsentation in den Daten.

Um diese Verzerrung zu überwinden, beschäftigen sich die Forschenden stärker mit einer Schlüsselfrage: Wenn sich Eingewanderte in einer Region niederlassen, ist dann ein Anstieg der Kriminalität zu beobachten? Die Studien zeigen im Durchschnitt, dass es keinen allgemeinen Anstieg der Kriminalität gibt, mit Ausnahme von Eigentumsdelikten wie Diebstahl, um es einfacher auszudrücken.

Warum diese Ausnahme? Weil diese Art von Straftaten eng mit wirtschaftlicher Unsicherheit und einem schwierigen Zugang zum Arbeitsmarkt verbunden ist, insbesondere für Menschen mit illegalem Aufenthaltsstatus.

Sie erwähnen auch die Bedeutung der Medienberichterstattung. Welche Rolle spielen die Medien dabei?

Es gibt zwei wichtige Medienpraktiken, die dazu beitragen können, dass die Wahrnehmung eines Zusammenhangs zwischen Einwanderung und Kriminalität überbewertet wird.

Die erste ist die Entscheidung der Journalistinnen und Journalisten, systematischer über Straftaten zu berichten, die von Ausländerinnen und Ausländern begangen werden, als über Straftaten, die von Einheimischen begangen werden. Mit anderen Worten: Bei ein und derselben Straftat berichten die Zeitungen möglicherweise eher über Fälle, an denen Ausländer*innen beteiligt sind. Dies führt mechanisch dazu, dass die Unterschiede in der Kriminalität zwischen Zugewanderten und Einheimischen in den Medien überrepräsentiert werden.

Eine Studie aus der Schweiz machte dieses Phänomen während des Referendums im Jahr 2009 über das Verbot des Baus von Minaretten deutlich. Die Forschenden zeigten, dass Gemeinden, in denen die Presse dazu neigte, über Kriminalität voreingenommen zu Ungunsten von Ausländerinnen und Ausländern zu berichten, höhere Stimmenzahlen gegen den Bau von Minaretten verzeichneten.

Der zweite Mechanismus liegt in der Entscheidung der Journalistinnen und Journalisten, ob sie die Nationalität oder Herkunft der in ihren Artikeln beschuldigten Personen offenlegen oder nicht. Ein Experiment in Deutschland mit der in Sachsen ansässigen Zeitung Sächsische Zeitung hat diesen Effekt verdeutlicht. Im Juli 2016 begann die Zeitung von einem Tag auf den anderen, stets die Herkunft jeder Person zu erwähnen, die an einem Vergehen oder Verbrechen beteiligt ist , unabhängig davon, ob es sich um Ausländer*innen oder Einheimische (in diesem Fall Deutsche) handelte.

Diese Änderung führte zu einer neutraleren Berichterstattung für die Leser, mit Artikeln, in denen es beispielsweise heißt, dass „ein 25-jähriger Deutscher ein Verbrechen begangen hat“ oder dass „ein Deutscher verdächtigt wird“. Dieser neue Ansatz hat die öffentliche Wahrnehmung in der Region, in der die Zeitung erscheint, verändert. Die Einstellung gegenüber der Einwanderung verbesserte sich, und die Sorge um die Migration ließ einer allgemeineren Sorge um die Kriminalität Platz. Die Einwohnenden begannen, Kriminalität als ein Problem wahrzunehmen, das die gesamte Bevölkerung betrifft und nicht nur mit der Zuwanderung zusammenhängt.

🤝 Dieser Artikel wird im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts Come Together veröffentlicht

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