Presseschau AUS DEM HOHEN NORD(WEST)EN

Wie die europäische Umweltgesetzgebung in der Schwebe blieb

Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist ein ehrgeiziger Text, der von Umweltschützenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Politikerinnen und Politikern verteidigt wird. Doch seine Existenz hängt am seidenen Faden, weil einige Akteurinnen und Akteure gegen die Verabschiedung des Gesetzes kämpfen, obwohl viele Europäer*innen hinter ihm stehen, erklärt Ciarán Lawless in seiner Presseschau.

Veröffentlicht am 13 Juni 2024 um 10:01

Das von der Europäischen Kommission vorgeschlagene Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist ein Schlüsselelement der EU-Biodiversitätsstrategie. Es soll der Tatsache entgegenwirken, dass rund 81 Prozent der natürlichen Lebensräume in Europa in einem schlechten Zustand sind. Derzeit ist noch nicht klar, ob wir uns auf das vorgeschlagene Gesetz in der Vergangenheit oder in der Gegenwart beziehen sollten. Trotz des starken Widerstands der größten Fraktion des Europäischen Parlaments, der Europäischen Volkspartei (EVP, rechts), und nach vielen Kompromissen erhielt der Text im Februar 2024 die Genehmigung des Parlaments. Es fehlte nur noch die Zustimmung des EU-Rates, die sicher schien, bis Ungarn in letzter Minute beschloss, sein Votum zu ändern.

Wie die Irish Times erläutert (und beklagt), hat „opportunistische Politik“ dafür gesorgt, dass das Gesetz „in der Schwebe blieb“. Während das Gesetz „von einer außergewöhnlich breiten Koalition aus Bürgerinnen und Bürgern, Nichtregierungsorganisationen und Unternehmen nach ausführlichen Konsultationen begrüßt und gefördert wurde“, schreibt der Times-Leitartikel, „wurde die Begründung vielen Landwirtinnen und Landwirten nicht effektiv vermittelt [...]. So sah die Europäische Volkspartei eine Gelegenheit, die berechtigten Beschwerden der Landwirtinnen und Landwirte im Vorfeld der Europawahl auszunutzen, und führte eine heftige Kampagne gegen das Gesetz. Die EVP verwässerte einige der wichtigsten Bestimmungen und stellte sie oft falsch dar.“ Bereits im November 2023 kam Lorène Lavocat in Reporterre zu dem Schluss, dass die Rechte das Gesetz „sabotiert“ und zu einem „Flop“ gemacht habe.


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Es bleibt noch eine Chance, das Gesetz (wenn auch in seiner aus den Kompromissen hervorgegangenen Form) zu retten: Nur ein Land, das sich der Stimme enthalten hat oder gegen das Gesetz war, müsste seine Meinung bis zum 17. Juni – der Termin der letzten Ratssitzung unter belgischer Präsidentschaft – ändern. Wie Caroline O'Doherty für den Irish Independent berichtet, wird ein „letzter Versuch“, das Gesetz zu retten, von Irlands Umweltminister Eamon Ryan (Grüne Partei) angeführt, mit Unterstützung seiner Teamkolleginnen und -kollegen aus Deutschland, Frankreich, Spanien, Dänemark, Luxemburg, der Tschechischen Republik, Litauen, Slowenien, Estland und Zypern. „Die Wiederherstellung der Ökosysteme ist unerlässlich, um die Auswirkungen des Klimawandels abzumildern und sich an sie anzupassen und um die Ernährungssicherheit in Europa zu gewährleisten“, heißt es in dem Appell an die europäischen Gesetzgeber*innen. „Wenn wir als EU-Regierungschefinnen und -chefs jetzt nicht handeln, würde das das Vertrauen der Öffentlichkeit in unsere politische Führung zu Hause und auf internationaler Ebene grundlegend untergraben.“

In einem kürzlich erschienenen Artikel über die Forstwirtschaft in Schweden argumentiert die Schwedische Gesellschaft für Naturschutz, dass das Schicksal des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur (sowie die Zukunft der schwedischen Wälder) auch stark von der Zusammensetzung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl abhängen wird.

Eine Folge der Bezeichnung „populistisch“ für die derzeitigen Anti-Establishment-Parteien ist, dass sie bei den Menschen den verständlichen Eindruck hinterlässt, dass alle ihre Positionen populär sind. Während das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur vor allem von Ländern abgelehnt wurde, in denen die populistische Rechte einen bedeutenden Rückhalt in der Bevölkerung hat (Italien, Ungarn, Schweden, Polen, Niederlande), wird das Gesetz von der Bevölkerung dieser Länder in der Tat überwiegend befürwortet.

Das niederländische Biojournaal berichtet, dass das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur „von 75 Prozent der Bürger*innen in Ländern, die das Gesetz nicht unterstützen, befürwortet wird“. Das geht aus einer Umfrage hervor, die Savanta für die RestoreNature Coalition (ein Zusammenschluss von vier NGOs, BirdLife Europe, ClientEarth, EEB und WWF EU) durchgeführt hat. 70 Prozent der Befragten in Finnland und 69 Prozent der Befragten in den Niederlanden und Schweden stimmten zu, dass das Gesetz verabschiedet werden sollte.

Die Mehrheit der Befragten stimmte auch darin überein, dass ein Rückgang der Natur und der biologischen Vielfalt in Europa „langfristig negative Auswirkungen auf die Menschen, die Landwirtschaft und die Wirtschaft“ haben würde. In der belgischen Tageszeitung Le Soir wirft Michel De Muelenaere einen Blick auf die jüngsten Eurobarometer-Ergebnisse und stellt fest, dass mehr als drei Viertel der Europäer*innen das Gefühl haben, dass Umweltfragen einen Einfluss auf ihr tägliches Leben und ihre Gesundheit haben. Diese Zahl steigt auf acht von zehn in Belgien und zwischen 88 und 98 Prozent in Spanien, Griechenland, Zypern, Malta, Portugal und Italien. Die Ergebnisse zeigen auch, dass 84 % der Europäer*innen der Meinung sind, dass „die EU-Umweltgesetzgebung für den Schutz der Umwelt in ihrem Land notwendig ist“.

Wie die belgische Website für landwirtschaftliche Nachrichten Landbouwleven erläutert, war Belgien aufgrund des Widerstands der traditionell eher rechtsgerichteten und euroskeptischen Region Flandern gezwungen, sich bei der Verabschiedung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur zu enthalten. Wie bereits erwähnt, hängt das Schicksal des Gesetzes von der letzten Sitzung unter der belgischen Ratspräsidentschaft ab. In einem offenen Brief an den belgischen Ministerpräsidenten Alexander de Croo, der am 29. Mai veröffentlicht wurde, fordern mehr als 70 Unternehmen und Wirtschaftsverbände daher den belgischen Ratsvorsitz auf, die „dringende“ Verabschiedung des Gesetzes sicherzustellen. Es gibt in der Tat starke Argumente dafür, dass das Gesetz gut für die Wirtschaft ist.

Landbouwleven zitiert Ursula Woodburn, Direktorin von CISL Europe und der Corporate Leaders Group Europe, die erklärt, dass „eine gut durchdachte, naturfreundliche Politik neue wirtschaftliche Möglichkeiten schaffen, Emissionen reduzieren, die Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimakatastrophen erhöhen und die Gesundheit weltweit verbessern wird“. Konkret heißt es in dem offenen Brief der wirtschaftlichen Entscheidungsträger: „Die Folgenabschätzung der Europäischen Kommission für ihr vorgeschlagenes EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur hat ergeben, dass für jeden in die Naturwiederherstellung investierten Euro 8 bis 38 Euro gewonnen werden, und zwar durch den Klimaschutz, die Vorbeugung und Verringerung von Naturkatastrophen, eine bessere Wasserqualität, sauberere Luft, gesündere Böden und die Steigerung des allgemeinen Wohlbefindens der Menschen.“

An der wissenschaftlichen Front berichtet Stéphane Foucart in Le Monde über den offenen Brief, der von einem Dutzend wissenschaftlicher Gesellschaften und Netzwerke unterzeichnet wurde, die den Rückschritt der Europäischen Union in Umweltfragen verurteilen. „Insbesondere“, so Foucart, „kritisieren die Autorinnen und Autoren die Aufgabe der Verordnung über den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden, die Absenkung der Umweltstandards in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP), die Aufgabe des Rechtsrahmens für nachhaltige Lebensmittelsysteme (FSFS), den Plan, die Anforderungen der Nitratrichtlinie zu senken, und die Nichtverabschiedung des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur“. Der offene Brief wurde am 29. Mai auf Zenodo hochgeladen, einem offenen Repositorium für wissenschaftliche Forschung, das vom CERN und (in der Vergangenheit) vom Horizon 2020-Projekt der Europäischen Union unterstützt wird. Den Unterzeichnenden des Briefes zufolge „scheint bei zu vielen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern in der EU ein umweltfeindlicher Geist zu herrschen. Dies ist aus mehreren Gründen besorgniserregend: Erstens, weil ein Großteil der Rechtfertigung für diese Entscheidungen auf Fehlinformationen beruht und zweitens, weil diese Entscheidungen stark von den besonderen Interessen bestimmter Untergruppen und Wirtschaftskonzerne innerhalb eines engen Spektrums der Gesellschaft beeinflusst zu sein scheinen.“

In Zusammenarbeit mit Display Europe, kofinanziert von der Europäischen Union. Die geäußerten Ansichten und Meinungen sind jedoch ausschließlich die des Autors/der Autoren und spiegeln nicht unbedingt die der Europäischen Union oder der Generaldirektion Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologie wider. Weder die Europäische Union noch die Bewilligungsbehörde können für sie verantwortlich gemacht werden.
ECF, Display Europe, European Union

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