Ksour Essaf, Tunesien, 16. Januar 2011.

Neue Freunde, neue Beziehungen

Wenn Europa die Demokratisierung Tunesiens fördern will, kann es sich nicht allein mit Hilfsangeboten begnügen, schreibt ein Experte der arabischen Welt. Europa muss heute seine gesamte Strategie der nachbarschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Ländern des Mittelmeerraums überdenken.

Veröffentlicht am 20 Januar 2011 um 14:08
Ksour Essaf, Tunesien, 16. Januar 2011.

Die Nachricht kam am späten Vormittag des 17. Januar: Die Europäische Union ist bereit, Tunesien „sofortige“ Hilfe zur Vorbereitung freier demokratischer Wahlen zu gewähren. Ich wette, diese schöne Geste der „guten Europäer“ geht den Tunesiern direkt ins Herz. Heute eilt Europa den Siegern zu Hilfe, wo es sich gestern noch mit der Regierung Ben Alis kompromittierte, verhandelte es doch über den „fortgeschrittenen EU-Status“. Dieser „tugendhafte“ Opportunismus kann aber eine unangenehme Tatsache nicht vergessen machen: Nur in Europas Schatten konnte der tunesische Autoritarismus so lange bestehen.

Unter den arabischen Mittelmeerländern zeichnete sich Tunesien, neben Marokko, schon seit langem durch eine intensive Zusammenarbeit mit der EWG und später mit der EU aus. Es war das erste Land des südlichen Mittelmeers, das mit der EU ein Europa-Mittelmeer Assoziationsabkommen schloss. Im Rahmen der Partnerschaft Europa-Mittelmeer (oder „Barcelona-Prozess“), kam ihm breite finanzielle Unterstützung zugute, um seine Wirtschaft dem freien Handel anzupassen. Als die zuerst auf 25 und dann auf 27 Mitglieder erweiterte EU im Jahr 2004 ihre „Europäische Nachbarschaftspolitik“ vorlegte, gehörte Tunesien mit Marokko zu den ersten Ländern, die dieses neue bilaterale Kooperationsabkommen unterzeichneten. Tunesien war an Europa angebunden, aber ohne die Perspektive des Beitritts, Beitritt „light“— mit den Kopenhagener Kriterien (Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, Schutz der Minderheiten, freie Marktwirtschaft) à la carte.

Tunesien war ein 28. EU-Mitglied, aber ohne die politischen Standards

Ben Alis Tunesien war quasi ein achtundzwanzigstes, aber von dessen politischen Standards befreites, EU-Mitglied. Sicher: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte waren Fragen, die zwischen der Union und Tunesien als „vorrangig“ eingestuft wurden. Doch war das nur eine Kapitelüberschrift unter einem Dutzend anderer, darunter „Bekämpfung des Terrorismus“, Liberalisierung des Handels, ausländische Direktinvestitionen und „die wirksame Steuerung der Migrationsströme“. Aktionen zur Förderung von Demokratie beschränkten sich auf Reformen in Verwaltung und Justiz, sowie darauf, das heimische Recht den internationalen Konventionen anzupassen.

Für zahlreiche EU-Parlamentarier war diese dubiose Situation ein Skandal, und die Union war gezwungen, sich zu verrenken. Trotz aller Bemühungen die Demokratie im Mittelmeerraum zu fördern, hat die EU stets geltend gemacht, dass es ihr vor allem um Sicherheitsbedenken hinsichtlich des islamistischen Terrorismus oder der Flüchtlingsströme aus Schwarzafrika ging, für die der Maghreb eine Transitzone ist. Insgesamt zeichnet die Zusammenarbeit in diesen Bereichen die Konturen eines Systems transnationaler Überwachung, von dem sowohl die Demokratien als auch die autoritären Regime profitieren. Die Sicherheit der einen stützt die Langlebigkeit der andren.

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„Demokratie in Europa ist eine Tyrannenzucht“

Das Ben Ali-Regime war der Archetyp einer autoritären Herrschaft, die sich auf ein manierlich demokratisches Europa stützt. Um dies Regime zu stürzen, konnte das tunesische Volk nur auf seine eigene Kraft zählen. Vom zaghaften Europa war keine Unterstützung zu erwarten. Und weniger noch von der allzu nachsichtigen französischen Regierung, die gar so weit ging, dem Regime ihr „polizeiliches Know-how“ anzubieten. Hilfe kam aus den USA, die wiederholt Druck auf die Rädelsführer der blutigen Repression ausübten. Tunesien befindet sich nun in einer Übergangsphase, dessen Ausgang offen und unsicher ist. Die Demontage des autoritären Regimes und die Umsetzung der demokratischen Bestrebungen sind ausschließlich Sache des tunesischen Volks.

Will sich die EU bei diesem schwierigen und gefährlichen Unterfangen solidarisch zeigen, kann sie es nicht bei einfachen Hilfen belassen, und seien es Hilfen für freie Wahlen. Die gesamte Strategie der Nachbarschaftsbeziehungen mit den anderen Staaten des Mittelmeerraums muss überdacht werden. Es liegt an der EU, die Lehren aus dem tunesischen Januar zu ziehen: eine Schockwelle in unserer Nachbarschaft, in einer Region, die bisher als ein Grenzwall des demokratischen, europäischen Raums betrachtet wurde. Doch eingesperrt in irgendwelche Befestigungsanlagen wird sich die Demokratie nicht in Tunesien durchsetzen können, geschweige denn bei seinen Nachbarn.

„Die kommende Demokratie in Europa“, schrieb Nietzsche, „ist zugleich, ob wir es wollen oder nicht, eine Tyrannenzucht.“ Wir sollten dieses Zitat mit Blicke auf das aktuelle Geschehen und auf unsere demokratischen Überzeugungen neu interpretieren: Es bietet uns Stoff, über uns als „gute Europäer“ sowie über unsere Beziehungen mit dem südlichen Ufern des Mittelmeerraums nachzudenken.

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

Diplomatie

Von Hilfen und Sanktionen

Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK), ein Gremium des Europäischen Rats, das sich mit Krisensituationen und möglichen Antworten der EU befasst, wird am 21. Januar zusammentreffen, um über die Hilfen der Union an Tunesien zu debattieren: humanitäre Hilfen, Unterstützung für politische Reformen und wirtschaftliche Entwicklung. Aber auch über finanziellen Sanktionen, die am 20. Januar von einer EU-Expertengruppe beschlossen wurden: das Einfrieren des Vermögens, das Ben Ali und sein Clan im Ausland erworben haben. Danach liegt es bei den Außenministern, aus den Vorschlägen politische Maßnahmen zu machen und umzusetzen. Gelegenheit dafür bietet ihr nächstes Treffen am 31. Januar, berichtet Les Echos.

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