Es ist eine der großen politischen Ironien der jüngeren europäischen Geschichte: Nigel Farages UKIP erhielt bei der Parlamentswahl im Jahr 2015 insgesamt nur einen Sitz. Dennoch war die Partei einflussreich genug, um den konservativen Premierminister David Cameron – gegen den Rat seiner stärksten Verbündeten – dazu zu bringen, ein desaströses Referendum abzuhalten und den Brexit, die Daseinsberechtigung der UKIP, im Jahr 2016 Realität werden zu lassen.
Eine damit verbundene Ironie ist die Tatsache, dass die Einwanderung zwar eine der treibenden Motivationen hinter dem Votum für den Brexit war, Großbritannien aber seit dem Austritt aus der EU eine Rekordeinwanderung erlebt. In den vier Jahren nach dem offiziellen Inkrafttreten des Brexit im Jahr 2020 vertraten die aufeinanderfolgenden Tory-Kabinette eine zunehmend „aufhetzerische“ Linie zur Migration. Den Tiefpunkt markierten für viele Suella Bravermans Interventionen. Die offiziellen Zahlen zeigten jedoch immer wieder die Unfähigkeit oder den Unwillen der Regierung, dieser Rhetorik Taten folgen zu lassen. Das löste schließlich den Aufstand der vermeintlich konservativen Wählenden aus, der zu einem Erdrutschsieg der Labour Party bei der Parlamentswahl 2024 beitrug.
Nun, da Farages Reform UK aus den britischen Wahlen vom 1. Mai (Gemeinderats- und Bürgermeister*innenwahlen sowie eine Nachwahl zum Parlament) als Sieger hervorgegangen ist, stellt sich die Frage, ob Farage kurz davor steht, seinen politischen Einfluss endgültig zu einer direkten parlamentarischen Macht zu konsolidieren.
(Neo)Powellismus
In seiner Analyse der Möglichkeiten, die Ideologie von Reform UK zu charakterisieren, verwirft der Mitherausgeber der New Left Review Oliver Eagleton im New Statesman „konservativ“, „faschistisch“ und sogar „rechtsextrem“ zugunsten des Begriffs „Powellismus“. 1968 hielt der konservative Abgeordnete Enoch Powell die Rede „Flüsse aus Blut“, die zum Urtext der britischen Anti-Immigrationsrhetorik wurde. Schon damals wurde die Rede sowohl von Konservativen als auch von Liberalen als aufhetzerisch bezeichnet, und Powell wurde umgehend vom Vorsitzenden der Konservativen, Edward Heath, entlassen, der sagte, die Rede sei „rassistisch im Ton und könne rassische Spannungen verschärfen“.
Für Eagleton (und viele andere) benutzte Powell die Einwandernden als „Sündenbock“ für den Niedergang des britischen Empire und des Nationalstolzes. „Die Kontinuitäten zum Farageismus“, schreibt Eagelton, „sind unübersehbar: eine Besessenheit von den Symbolen des Englischen; ein Plan zur Wiederherstellung des ‚Nationalstolzes‘, der auf wenig mehr hinausläuft als die Verhärtung der Grenzen und die Stärkung des Großkapitals. Reform UK reagiert jedoch nicht auf die Verkümmerung des Imperialismus, sondern auf den Zusammenbruch des Neoliberalismus: Die Partei nährt sich von der Verzagtheit und der Entmutigung, die dieses gescheiterte Experiment hinterlassen hat. Ihre größte Quelle politischer Energie ist nicht die Entkolonialisierung Indiens im Jahr 1947, sondern die Große Rezession von 2008.“
Letztlich bezweifelt Eagleton, dass sich Reform UK über die bloße Opposition hinaus behaupten kann. „Farages Politik ist ähnlich inkonsistent wie die von Powell. Er will das britische Wachstumsmodell – ein Rentierstaat mit einem großen, schlecht bezahlten Dienstleistungssektor – nicht ändern, aber er verabscheut die Einwanderung, die dieses Modell aufrechterhält. [...] Sollte Reform UK an die Macht kommen, würde sie sicherlich an solchen Widersprüchen scheitern. Aber in der Opposition kann sie weiterhin Hysterie über ihre Lieblingsthemen verbreiten, von ‚kleinen Booten‘ bis zur ‚Zwei-Klassen-Justiz‘, wohl wissend, dass die Regierung nichts dagegen unternehmen wird.“
Ungleichheit
Während Keir Starmers Linie zur Einwanderung kaum nachgiebig ist und die Zahl der Neuankommenden hartnäckig hoch bleibt, deuten die Daten darauf hin, dass die Ablehnung der Labour-Partei bei den Kommunalwahlen viel mehr mit Ungleichheit zu tun hat als mit Sorgen über die Einwanderung. Bei einem Besuch in Grimsby – einer wirtschaftlich benachteiligten Stadt, die bis 2019 eine Labour-Hochburg war, 2024 zu Labour zurückkehrte, und Reform UK im Mai einen Erdrutschsieg bescherte – trifft Gregor Atanesian in BBC Russia sicherlich auf viele, die über die Einwanderung verärgert sind („Ich würde für Nigel stimmen, oder für jeden, der ein Maschinengewehr nimmt und diese Boote stoppt“), aber auch auf ehemalige Labour-Treue, die wegen der Lebenshaltungskosten übergelaufen sind: „Ich habe mein ganzes Leben lang Labour gewählt und auch 2024 für die Partei gestimmt. Aber was hat sie getan? Sie hat die Gemeindesteuer erhöht und die Winterheizungszulage abgeschafft.“
Im Guardian schreibt Jessica Elgot, dass „hochrangige Persönlichkeiten der Labour-Partei Daten weitergegeben haben, die offensichtlich darauf hindeuten, dass die größte Gefahr für die Partei darin besteht, progressive Wählende zu verlieren, die durch eine wahrgenommene Untätigkeit bei den Lebenshaltungskosten und mögliche Kürzungen bei öffentlichen Dienstleistungen verärgert sind.“ In der Tat zeigen die Daten über die Wählenden, die von der Labour-Partei abgewandert sind, dass ihre Hauptsorgen mit den wirtschaftlichen Ungleichheiten zusammenhängen, während die Einwanderung auf der Liste der Prioritäten weit unten steht. 18 % der Wählerschaft der Labour-Partei wählten die Partei nicht mehr, weil sie „die Einwanderung nicht kontrollieren konnte“, gegenüber 28 % der Nicht-Labour-Wählenden. Im Gegensatz dazu lehnten zwischen 35 % und 23 % der ehemaligen Labour-Wählenden die Labour-Partei wegen Dingen wie „Abschaffung des Heizkostenzuschusses für den Winter“, „Unfähigkeit, die Lebenshaltungskosten zu senken“, „Unfähigkeit, die öffentlichen Dienstleistungen zu verbessern“ und „Unfähigkeit, den Reichen und Mächtigen die Stirn zu bieten“ ab.
Die Daten zeigen auch, dass die überwältigende Mehrheit der Labour-Abtrünnigen bei der nächsten Parlamentswahl zu den Grünen (43 %) oder zur liberaldemokratischen Partei (40 %) wechseln würde. Dies deutet darauf hin, dass Starmer seine Zeit damit verschwendet, um die einwanderungsfeindliche Wählerschaft zu werben, und mehr Zeit damit verbringen sollte, „direkt mit progressiven Wählenden zu sprechen“. Tatsächlich zeigen Umfragen auch, dass die Wählerschaft von Reform UK dem eher traditionellen Labour-Programm nicht zwangsläufig feindlich gegenübersteht: „Die Wählenden von Reform UK unterstützen eine stark interventionistische, linke Wirtschaftsagenda“, schreibt Elgot, „einschließlich der Verstaatlichung von Versorgungsbetrieben, höherer Steuern für Unternehmen und der Forderung, dass Großbritannien Maßnahmen ergreift, um nationale Industrien vor ausländischer Konkurrenz zu schützen“.
Fragmentierung
Für viele Analystinnen und Analysten – Hannah Bunting in The Conversation, David Gauke in The New Statesman, Paula Surridge im Guardian – ist die wichtigste Erkenntnis aus den Wahlen im Mai 2025 „politische Fragmentierung“. Bunting, Dozentin für quantitative britische Politik an der Universität Exeter, gibt einen faszinierenden Einblick in die Messung dieser Fragmentierung und kommt zu dem Schluss, dass „diese Wahl Rekorde in Bezug auf das Ausmaß der Fragmentierung gebrochen hat – eine signifikante Bewegung weg von der Dominanz der beiden Parteien, die die britische Politik im letzten Jahrhundert beherrscht haben.“
Paula Surridge verweist ihrerseits auf eine Zunahme der „Angebotsseite der Wahlpolitik“, d. h „wer auf dem Wahlzettel erscheint“.„Bei diesen englischen Kommunalwahlen“, schreibt die Professorin für politische Soziologie an der Universität Bristol, „konnte fast jede(r) für Reform UK stimmen, wenn er/sie wollte, was bei den Parlamentswahlen 2024 nicht einmal der Fall war“.
Und während Reform UK die Konservativen in einigen Gebieten einfach verdrängte, erhielt die liberaldemokratische Partei, die insgesamt den zweiten Platz belegte, auch viele Stimmen von desillusionierten Wählenden der Konservativen und der Labour Party. „Dies ist weit mehr als die Geschichte einer rebellischen Partei, die den Status quo stört“, schreibt Surridge. „Es ist die Geschichte einer tiefen Enttäuschung von den politischen Parteien, die seit einem Jahrhundert in der britischen Politik das Sagen haben. Die Wählerschaft hat zwei unpopuläre Regierungen erlebt, eine, die sie kürzlich abgewählt hat, und eine, für die eine große Mehrheit vor weniger als einem Jahr nicht gestimmt hat. Die Wählenden sind nicht mehr an alte Loyalitäten in Bezug auf Klasse oder Partei gebunden und sind bereit, etwas anderes auszuprobieren.“
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