Interview Krieg in der Ukraine

Oleksandra Matwijtschuk : „Wenn wir in Zukunft Kriege verhindern wollen, müssen wir heute die Staaten und ihre Führer bestrafen, die diese Kriege beginnen“

Die ukrainische Friedensnobelpreisträgerin fordert die Einrichtung eines Sondergerichtshofs für die russische Aggression gegen die Ukraine und prangert die weltweiten Rechtslücken, die Untätigkeit des Westens hinsichtlich der Einfrierung russischer Vermögenswerte und die brutale Realität des Lebens unter der Besatzung an.

Veröffentlicht am 30 Juli 2025

Als Vertreterin und Vorsitzende des ukrainischen "Zentrums für bürgerliche Freiheiten" hat Oleksandra Matwijtschuk im Jahr 2022 den Friedensnobelpreis erhalten und auch persönlich entgegengenommen.

Matviichuk | GPA

Er wurde ihr deshalb überreicht, da ihre 2007 gegründete Menschenrechtsorganisation die ukrainische Zivilgesellschaft stärkt und seit Beginn der Vollinvasion russische Kriegsverbrechen aufdeckt und dokumentiert.

Mitte Juli war sie zu einer Ukraine-Wiederaufbaukonferenz in Rom eingeladen und hielt dort eine Rede. Kurze Zeit später stand sie dem Pulse-Journalistennetzwerk für ein Interview zur Verfügung.


Maryna Svitlychna: Es ist bekannt, dass ein Wiederaufbauprozess, der einen gerechten und dauerhaften Frieden gewährleisten soll, eine menschliche Dimension braucht – sieht der derzeitige Prozess mit der Konferenz in Rom eine solche vor?

Oleksandra Matviichuk: Ich hatte zwei Hauptbotschaften auf der Konferenz. Meine erste Botschaft war: Wenn wir über Wiederaufbau sprechen, haben wir nicht den Luxus, damit bis nach dem Krieg zu warten. Wir wissen nicht, ob wir am Ende dieses Krieges, in der Mitte oder erst am Anfang stehen. Russland führt einen Abnutzungskrieg und zerstört absichtlich das wirtschaftliche Potenzial der Ukraine. Um zu überleben, müssen wir also jetzt über Wiederaufbau sprechen und Maßnahmen ergreifen. Zweitens: Wenn Menschen die schrecklichen Bilder aus Butscha oder die vollständige Zerstörung von Mariupol sehen, denken sie zuerst an den Wiederaufbau von Wohnungen, Straßen und anderer ziviler Infrastruktur. Aber Wiederaufbau beschränkt sich nicht darauf. Im Mittelpunkt des Wiederaufbaus muss der Mensch stehen. Das bedeutet, wir müssen auch über Unterstützungsprogramme für Menschen sprechen, die in zerstörte Gebiete zurückkehren, über Hilfe für ukrainische Unternehmen, die durch gezielte russische Angriffe Vermögen und Chancen verloren haben, und über die natürliche Umwelt, die verheerend geschädigt wurde. Und natürlich müssen wir die Bedürfnisse derjenigen ansprechen, die Kriegsverbrechen überlebt haben – sie benötigen materielle, medizinische und psychologische Hilfe, und auch das kann nicht warten. Wir müssen über einen Wiederaufbauprozess sprechen, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht – denn nur ein solcher Wiederaufbau kann wirklich nachhaltig sein.

Warum benötigen wir ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression gegen die Ukraine – könnten wir nicht bestehende Institutionen nutzen?

Weil es keine bestehenden Institutionen gibt, die Wladimir Putin und die oberste politische und militärische Führung der Russischen Föderation für das Verbrechen der Aggression strafrechtlich verfolgen können. Selbst der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat in diesem Fall leider keine Zuständigkeit. Alle Verbrechen, die wir dokumentieren, sind das Ergebnis der Entscheidung, diesen Krieg zu beginnen. Deshalb muss ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression eingerichtet werden, um diese Lücke in der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu schließen. Und es ist sehr wichtig, dass am 25. Juni ein historisches Abkommen zwischen der Ukraine und dem Europarat unterzeichnet wurde, das den Beginn der Errichtung dieses Tribunals markiert.

Warum ist es wichtig, dieses Tribunal jetzt einzurichten?

Weil wir im 21. Jahrhundert leben, und unsere Aufgabe ist es sicherzustellen, dass Gerechtigkeit nicht davon abhängt, wie und wann ein Krieg endet. Das ist tatsächlich eine revolutionäre Idee, auch wenn den meisten Menschen nicht bewusst ist, wie revolutionär sie ist. Ich erkläre es ganz einfach: Wenn wir in Zukunft Kriege verhindern wollen, müssen wir heute die Staaten und ihre Führer bestrafen, die diese Kriege beginnen. Und das klingt nach gesundem Menschenverstand. Aber in der gesamten Menschheitsgeschichte gibt es nur einen einzigen solchen Präzedenzfall: die Nürnberger und die Tokioter Prozesse. Das war ein wichtiger Schritt im letzten Jahrhundert zur Etablierung von Recht und Gerechtigkeit. 


„Eine unausgesprochene Norm wurde festgelegt, dass Gerechtigkeit ein Privileg der Sieger ist. Aber Gerechtigkeit ist kein Privileg. Gerechtigkeit ist ein grundlegendes Menschenrecht“


Aber ich erinnere daran, dass das Nürnberger Tribunal ein Gericht der Sieger war – es verurteilte Nazi-Kriegsverbrecher, nachdem deren Regime gestürzt worden war. Und so traurig es ist: Eine unausgesprochene Norm wurde festgelegt, dass Gerechtigkeit ein Privileg der Sieger ist. Aber Gerechtigkeit ist kein Privileg. Gerechtigkeit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Und seit dem Nürnberger Tribunal hat sich viel verändert. Aber wir als ukrainische Zivilgesellschaft, als Ukraine, gemeinsam mit einer Reihe internationaler Partner, mussten enorme Anstrengungen unternehmen, um die internationale Gemeinschaft davon zu überzeugen, dass wir nicht warten dürfen und dass Gerechtigkeit nicht davon abhängig sein darf, wann und wie der Krieg endet. Deshalb muss dieses Sondertribunal jetzt arbeiten. Wenn es ein Verbrechen gibt – und es gibt eines –, wenn es Menschen gibt, die dieses Verbrechen begangen haben – und die gibt es, wir kennen sie namentlich –, dann muss es auch Strafe geben.

Das internationale Rechtssystem steht unter großem Druck wegen angeblicher Doppelstandards. Glauben Sie, dass dies den ukrainischen Weg beeinflussen wird?

Nun, meiner Meinung nach gibt es keine Doppelstandards, es gibt vielmehr eine konsequente Verletzung des Völkerrechts und internationaler Verpflichtungen durch verschiedene Länder. Und das betrifft nicht nur westliche Länder. Nehmen wir den Fall der Ukraine: Erinnern wir uns daran, wie afrikanische und lateinamerikanische Länder in der UN-Generalversammlung gegen die russische Aggression gestimmt haben. Oder denken wir daran, dass der Internationale Strafgerichtshof im selben Jahr einen Haftbefehl gegen Putin und seine Kommissarin für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, ausgestellt hat – und dennoch hat der Präsident Südafrikas Putin zur BRICS-Konferenz eingeladen, die in Südafrika stattgefunden hat. Und das, obwohl Südafrika beim Internationalen Gerichtshof eine Klage wegen des in Gaza begangenen Völkermords eingereicht hat. Gleichzeitig ignoriert Südafrika den Angriffskrieg Russlands und erklärt sich für neutral.


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Oder nehmen wir Brasilien: Der Präsident hat sich geweigert, am internationalen Friedensgipfel in der Schweiz teilzunehmen, mit der Begründung, man könne über Frieden nicht ohne Russland sprechen. Doch im Jahr zuvor hatte er die ukrainische Delegation nicht zum G20-Gipfel in Brasilien eingeladen und dort das Thema Frieden nur mit der russischen Delegation und ohne ukrainische Beteiligung besprochen. Das sind genau die Doppelstandards, die dem Westen oft vorgeworfen werden. Aber hier sehen wir, dass sie auch von Ländern des Globalen Südens praktiziert werden. Für mich ist daher klar: Wir sollten aufhören, das als "Doppelstandards" zu bezeichnen. Wir müssen offen sagen, dass Länder in verschiedenen Teilen der Welt internationales Recht verletzen und internationale Verpflichtungen nicht einhalten – je nach ihren politischen Sympathien wählen sie die eine oder andere Strategie.

Wie bleiben Sie persönlich angesichts dieser enormen Herausforderungen und emotionalen Belastungen beim Dokumentieren von Gräueltaten widerstandsfähig und motiviert?

Ich denke, es gibt mehrere Dinge, die mich antreiben. Erstens ein starkes Verantwortungsgefühl. Dies ist der am besten dokumentierte Krieg in der Geschichte der Menschheit. In unserer Datenbank, die wir gemeinsam mit Partnern führen, haben wir mehr als 88.000 dokumentierte Fälle von Kriegsverbrechen. Das sind nicht nur Zahlen. Hinter diesen Zahlen stehen konkrete menschliche Schicksale. Und es ist mir sehr wichtig, dass diese Geschichten nicht einfach nur in nationalen Archiven abgelegt werden, sondern zur Grundlage für Gerechtigkeit werden – zur Rückgabe von Namen, zur Wiederherstellung von Rechten und zur Wiederherstellung menschlicher Würde. Das ist meine zentrale Aufgabe. Und zweitens weiß ich, dass all unsere Anstrengungen sinnvoll sind – auch wenn die Herausforderung riesig ist. Aber wenn wir nichts tun, werden wir das Zukunftsbild, das wir anstreben, niemals erreichen. Deshalb ist der Kampf für diese Zukunft immer die beste Strategie.

Glauben Sie, dass die EU noch mehr tun könnte, um Gräueltaten zu stoppen?

Nun, es gibt immer mehr, das man tun kann. Ich beginne aber mit einem Dank: Wir haben die Unterstützung der EU, und sie hat der Ukraine geholfen, in den ersten Monaten und Jahren dieses großangelegten Krieges zu überleben. Denn der Krieg dauert ja bereits elf Jahre – er wurde der Welt erst 2022 durch die großangelegte Invasion bewusst. Aber es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die jetzt getan werden müssen. Ich nenne nur ein Beispiel: Es gibt 300 Milliarden Euro an eingefrorenen russischen Staatsvermögen in den G7-Ländern, und auch in Belgien. Diese Summe übersteigt alle bisherigen Hilfen für die Ukraine. Und logisch ist: Der Aggressor muss für den angerichteten Schaden zahlen. Dass Russland sich weigern wird, ist klar.

Doch es gibt eingefrorene Mittel, die in einen Treuhandfonds überführt werden könnten – zur Wiederherstellung der Ukraine, zur Entschädigung von Opfern, für Waffenbeschaffung, für all das, wofür unsere europäischen Partner derzeit kein Geld haben. Und wie wir sehen, können wir auf amerikanische Gelder kaum mehr zählen. Aber die Mittel müssen irgendwoher kommen. Trotzdem ist bisher nichts unternommen worden, um diese Gelder zu konfiszieren.

Dabei gibt es nur zwei Optionen: Entweder die Gelder gehen an die Ukraine – oder sie gehen zurück an Russland. Es gibt keine dritte Möglichkeit. Denn sie sind im Rahmen eines Sanktionsregimes eingefroren, das alle sechs Monate einstimmig verlängert werden muss. Und es ist leicht vorstellbar, dass etwa Viktor Orbán die Verlängerung blockiert. Dann müssen die Gelder am selben Tag an Russland zurücküberwiesen werden. Meine Frage ist: Worauf warten die europäischen Länder? Sind sie bereit, die größte Einzelinvestition in die russische Kriegsmaschinerie in Höhe von 300 Milliarden Euro zu tätigen? Es ist offensichtlich, wofür Russland dieses Geld verwenden würde. Allein offiziell fließen 40 Prozent des russischen Haushalts in Militärausgaben.

Was bedeutet es, in besetzten Gebieten zu leben? Ein Großteil der westlichen Öffentlichkeit scheint keine klare Vorstellung davon zu haben.

Sie haben recht. Viele Menschen verstehen nicht, was Besatzung bedeutet, und wollen es auch nicht wirklich verstehen – obwohl es eine Fülle an Informationen gibt. Ich rede nicht einmal von ukrainischen Berichten. Es gibt regelmäßig Berichte der Uno. Wenn man diese liest – sie sind trocken, bürokratisch –, versteht man sofort: Besatzung bedeutet nicht einfach, eine Flagge durch eine andere zu ersetzen. Besatzung bedeutet: Verschwindenlassen, Vergewaltigungen, illegale Inhaftierungen, Auslöschung der Identität, Zwangsadoption ukrainischer Kinder, Filtrationslager und Massengräber. Das ist Besatzung. Und man kommt zu einer einfachen Erkenntnis: Besatzung lindert nicht das menschliche Leid. Sie macht es nur unsichtbar, weil die Menschen keine Möglichkeit mehr haben, sich zu schützen. Auch Besatzung ist Krieg – gemäß dem humanitären Völkerrecht, nur in anderer Form. Wir dokumentieren seit elf Jahren die Verbrechen Russlands in besetzten Gebieten.

Ich kann das Wesen der Besatzung mit einem Beispiel veranschaulichen: dem Fall des Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko. Er schrieb wunderbare Bücher für ukrainische Kinder – eine ganze Generation ist mit seinem "Papa-Buch" aufgewachsen. Während der russischen Besatzung verschwand er. Seine Familie glaubte lange, dass er wie viele andere Zivilisten einfach verschleppt wurde und sich in russischer Gefangenschaft befindet. Doch als die ukrainische Armee die Region Charkiw befreite, fanden wir Massengräber in einem Wald bei Isjum. Hunderte Männer, Frauen und Kinder waren dort verscharrt – einige mit gefesselten Händen. In Grab Nummer 319 wurde die Leiche Wakulenkos gefunden. Er wurde gefoltert und erschlagen. Und man fragt sich einfach: Warum sollte Russland einen Kinderbuchautor töten? Weil sie es konnten. Das ist das Wesen der Besatzung – die völlige Willkür gegenüber dem Menschen, einfach nur, weil man es kann.

🤝 Dieser Artikel ist das Ergebnis einer gemeinsamen Arbeit im Rahmen des Pulse-Projekts. Florian Niederndorfer von Der Standard sowie Gian-Paolo Accardo und Francesca Barca von Voxeurop haben dazu beigetragen. Dieser Artikel ist die von Der Standard veröffentlichte Version.

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